Dreiundzwanzigstes Kapitel

20 1 0
                                    

Meine Leggings vermag nicht annähernd, mich im kühlen Tanzstudio warm zu halten. Während ich auf Eamon und Katie warte, stecke ich schon mal mein Handy an. Sofort erklingen Oasis' sanfte Klänge aus den Lautsprechern.

Meine Finger machen sich gerade an meinen Stulpen zu schaffen, als Eamon ins Studio tritt. Ich stehe nicht gleich auf, sondern bringe erst meine Einwärmübung zu Ende.

„Hi", lächelt er mir entgegen. Sein schwarzer Kapuzenpulli spannt sich über seine riesigen Armmuskeln. Er kommt zu mir und wird mit jedem Schritt noch viel grösser und kräftiger.

„Hallo", grüsse ich zurück und stehe auf.

„Mach ruhig weiter", winkt er ab und legt seinen Beutel an die Wand. „Oasis, huh? Old School. Mag ich."

Ich grinse freudig. Während ich meine Zehenspitzen mit einem Terraband aufzuwärmen beginne, mustere ich Eamon verstohlen. Es ist so surreal, dass ich gleich mit ihm tanzen werde.

Obwohl die Aufregung langsam aber sicher an die Oberfläche durchdringt, hält sich meine Vorfreude in Grenzen. Viel zu viele Gedanken zermalmen die Freude zu feinem Staub, den ich nicht mehr greifen kann. Gedanken zu Alan – natürlich –, zu seiner Selbstsicherheit, seinem Geruch, seinen lieben Worten. Aber auch Gedanken zu seinem Kanabis, zu meiner Unschuld, meiner Naivität. Und als wäre das alles nicht genug ist die Stimmung zwischen Skye und mir noch immer seltsam und Zuhause wartet ein Berg voller Bücher und Essays und die prüfenden Augen meiner Mutter auf mich.

„Hallo ihr beiden", schwingt Katie leichtfüssig in den hellen Raum, ein breites Lachen auf den Lippen. Einen nach dem anderen umarmt sie uns und stellt dann ihre Tasche ab.

„Gut, ihr seid schon aufgewärmt. Das werden wir gleich brauchen", meint sie und nimmt ihren Thermobecher in die wärmste Ecke des Raumes. Hat eigentlich jeder so ein Ding?

„Aber zuerst will ich euch einige allgemeine Informationen geben, okay? Kommt her, hier ist es schön warm. Zieht ruhig auch noch mal eure Pullis an."

Ich tue wie geheissen, schalte die Musik aus, streife mir meinen übergrossen Kapuzenpulli über und geselle mich neben Eamon zu Katie. Neben seinen muskulösen Beinen sind meine Oberschenkel geradezu Zahnstocher. Ob das wohl gut geht. Ich kann mit Eamons Sportlichkeit definitiv nicht mithalten.

„Schiess los", fordert er mit rauer Stimme.

„Hach, ich freue mich so. Endlich geht's los", ruft sie erfreut aus und legt sich kurz ihre Hände an die Wangen. „Ihr wisst gar nicht, wie lange ich dafür gehofft und geplant habe, dass wir nun alle hier sind."

Das geht uns wohl allen so.

„Also, wie gesagt geht es ums April Showcase, das habt ihr ja alles gelesen, das muss ich nicht wiederholen. Und wie besprochen versuche ich mich an einem Contemporary Stück. Ich habe das Konzept grob ausgearbeitet, die Musik steht eigentlich so weit auch. Was die kommenden vier bis fünf Trainings ansteht, ist das Vertrauen zwischen euch aufzubauen."

Eamon und ich gucken uns unwillkürlich an. Das klingt alles so durchdacht, so professionell. Und ganz danach, dass Eamon und ich uns recht nahekommen werden.

„Am Besten fangen wir mit einigen Basics an, einer handvoll Tanzschritten, die wir dann irgendwie in Harmonie zu bringen versuchen", erklärt Katie unser Vorhaben. „Ziel ist, dass ihr zusammen eine Bewegung seid. Und dann würde ich eigentlich gerne auch schon mit kleinen Hebefiguren beginnen, die wir langsam aufbauen können. Nicht zu Schwieriges für den Anfang, natürlich. Wir werden sehen, wie weit wir heute kommen. Schaut auf jeden Fall, dass ihr vor jedem Training gut aufgewärmt seid und lasst euch bei Schmerzen sofort durchchecken, ja?"

Ich nicke, Eamon auch.

Katie erzählt uns etwas über das Konzept der Choreographie, das Thema, die Geschichte. Wir stellen natürlich ein Liebespaar dar, aber ich – also die Frau – ist nicht mehr lebendig. Eamon hat am Anfang und Schluss des Stücks kleine Solos, dafür muss ich einige Takte in der Mitte alleine durchziehen. Es ist ein Spiel mit Leben und Tod, ein Spiel mit Verstand und Irrsinn. Ich mag das Thema sofort, auch wenn es mich artistisch etwas überfordert. Wie ich durch die Bewegungen einem Geist gleichkommen soll, ist mir noch nicht bewusst.

Auch Eamon scheint die Idee zu gefallen, er nickt begeistert und gibt gleich einige Inputs, die mir niemals eingefallen wären.

Danach probieren wir uns an einigen Bewegungsflüssen, an recht einfachen Drehungen, die ich schon etliche Male im Unterricht durchgenommen habe. An Schrittkombinationen, die mir normalerweise wenig Mühe bereiten, und an Armschwüngen, die mir inzwischen automatisch kommen. Doch die Harmonie mit Eamon zu finden, gestaltet sich als weitaus schwieriger als erwartet. Seine Glieder sind länger, seine Schwünge kräftiger, seine Bewegungen irgendwie flüssiger.

Katie hat enorm viel Geduld mit uns. Obwohl ich nach eineinhalb Stunden echt frustriert mit mir selbst bin, lächelt sie mich aufmunternd an.

„Gut", nickt sie und legt eine Hand auf mein ausgestrecktes Handgelenk und die andere auf meine Schulter, die sie leicht zurückrollt. „Wenn du die runterrollst, brauchst du den Rücken noch mehr. Eamon, roll nicht so stark zurück. Wir müssen einen Ausgleich finden."

Als ich bereits völlig verschwitzt bin und mein Körper nach Wasser und Essen schreit, kommen wir zu den Hebefiguren. Wenn ich das vorherige Unternehmen als Katastrophe betitelt hätte, ist das nun der totale Weltuntergang.

Wir fangen damit an, dass mich Eamon auf seine Schulter dreht, mich dann unter den Schultern packt und hochstemmt. Da ich nie zuvor solche Hebefiguren ausprobiert habe, fällt mit dem Boden unter meinen Füssen alle Orientierung von oben und unten weg. Ich habe keine Ahnung, was meine Beine machen, wieso meine Arme sich verkrampfen. Und ich weiss auch nicht, wieso Eamon mich trotzdem hochstemmen kann. So leicht bin ich wirklich nicht.

Wir probieren Variationen und andere Figuren aus, doch mein stämmiger Tanzparner und ich boxen uns immer wieder aus Versehen, ich rutsche wiederholt aus seinen Händen, er fängt mich irgendwie auf und stellt mich auf verkorkste Art auf den Boden zurück. Trotzdem müssen wir immer wieder lachen, was das Ganze etwas auflockert.

Mein Atem wird immer schneller. Inzwischen bin ich trotz des kalten Studios bis auf meinen Sport-BH ausgezogen und mit einem Schweissfilm bedeckt. Katie scheint entgegen meiner Erwartung nicht enttäuscht von meinen vielen Schwierigkeiten.

„Ich glaube, das reicht für heute", erlöst sie Eamon und mich nach genau zweieinhalb Stunden. Ich renne fast zu meiner Wasserflasche.

„Das war doch ein guter Anfang", lobt sie zuversichtlich. „Jetzt weiss ich, was in etwa realistisch ist und woran wir erst einmal arbeiten müssen. Nächstes Mal wird bestimmt schon viel einfacher."

Ich gucke zu Eamon, der mir einen verschwörerischen Blick zuwirft.

„Entschuldigung, dass ich dich immer wieder geschlagen habe", zucke ich verlegen mit den Schultern. „Ich bin wohl kein Naturtalent, wenn es um Hebefiguren geht."

„Kein Problem", antwortet er gut gelaunt, aber sichtlich erschöpft. „Ich weiss zur Hälfte der Zeit auch nicht, was ich mache. Aber das lief doch gar nicht so schlecht. Kriegen wir sicher irgendwie hin."

„Und ob!", meldet sich Katie energisch. „Sin, das war doch super für den Anfang. Jetzt ruh dich aus und wir gucken nächste Woche, was wir konkret verbessern können."

Zwanzig Minuten später trete ich aus dem kühlen Studio in die eisige Kälte nach draussen. Meine erhitzten Wangen werden von einem frechen Wind umweht. Obwohl meine Begeisterung über mein eigenes Können sich in Grenzen hält, erreicht die Freude nun endlich mein Herz. Das Tanzen hat eine heilende Kraft, eindeutig.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt