Mein Herz ist zerrissen. Alan und Skye. Die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben. Nicht einer, nein, beide haben mein Vertrauen missbraucht, mich belogen und betrogen. Keine Entschuldigung wäre gut genug, um diesen Vertrauensbruch wieder gut zu machen.
Die Musik in meinen Ohren spiegelt meine Gefühlswelt. Die sanften, traurigen Klänge begleiten mich im Bus zum Tanzunterricht. Nachdem ich den ganzen gestrigen Abend weinend in meinem Zimmer verbracht habe, bis ich meiner Mutter schliesslich alles erzählt habe und sie mich in ihren Armen getröstet hat, habe ich heute den Unterricht mit ihrem Segen geschwänzt. Fürs Tanzen habe ich eine dicke Schicht Makeup aufgetragen, um die gerötete Haut und meine verweinten Augen einigermassen zu überdecken. Mein Handy war den ganzen Tag lang im Flugmodus, damit keine Anrufe und Nachrichten eintreffen konnten.
Beim Gedanken an meine Mutter und ihre bedingungslose Liebe für mich tritt eine Träne in mein Auge. Ich presse die Lippen aufeinander und schniefe. Wieso sind meine Eltern die einzigen, denen ich blind vertrauen kann? Eigentlich sollten das meine besten Freunde doch auch sein. Aber nach Skyes Lügen vertraue ich keinem mehr. Unmöglich, dass sie niemandem davon erzählt hat. Das heisst, sie haben mich alle belogen. Und wenn nicht über Alan, dann ganz bestimmt über irgendetwas anderes.
Als ich im Tanzstudio ankomme, wärmt sich Miles bereits im Innern auf. Um ihn zu umgehen, husche ich schnell in die Umkleide und schlüpfe in meine Leggings. Die anderen Tänzerinnen plaudern freudig über alles mögliche. Ich mache die obligaten Bemerkungen, bleibe aber sonst still. Erst zwei Minuten bevor die Stunde beginnt trete ich ins Studio und lächle Miles gezwungen an, der mich natürlich sofort in eine Umarmung zieht.
„Alles in Ordnung?", fragt er misstrauisch. Ich nicke zur Antwort und verziehe mich an die Barre, um meine Füsse notdürftig aufzuwärmen. Zu meiner Erlösung tritt sofort Katie in den Raum, die ihren Afro neu in dünnen Zöpfchen trägt. Damit sieht sie viel jünger aus, aber es steht ihr ausgezeichnet. Nach einer Begrüssung und anschliessendem Warmup erlernen wir den Rest der Contemporary Choreographie, an der wir seit Wochen arbeiten.
Da die Temperaturen draussen nun langsam etwas ansteigen, wird mir auch beim Tanzen viel schneller warm, weshalb ich bald in einem dünnen Schweissfilm gebadet bin. Alle meine Tanzfreundinnen ziehen ihre Shirts aus und zeigen ihre durchtrainieren Bäuche. Doch ich fühle mich so unwohl in meiner Haut, dass ich es ihnen nicht gleichtue. Stattdessen trinke ich doppelt so viel Wasser.
„Gut, das war ein toller Durchgang", lobt Katie, als die Tanzstunde fast vorbei ist. „Nun versucht, die Emotionen noch verstärkt rüberzubringen. Fangt den Schmerz der Sängerin ein, gebt ihren Klagen einen körperlichen Ausdruck. Alles klar? Dann teilt euch in zwei Gruppen auf, damit ihr euch gegenseitig zuschauen könnt."
Ich bleibe einfach stehen, ohne mich aktiv einer Gruppe anzuhängen. Schmerz und Klagen? Wie soll ich das gerade jetzt darstellen, ohne durchzudrehen?
Und so bleibe ich bei meiner emotionslosen Ausführung, die zwar athletisch ganz in Ordnung ist, aber nichts mit Artistik zu tun hat. Heftig atmend bleibe ich am Ende der Choreographie stehen und erkenne in Katies Blick, dass sie nicht zufrieden mit meiner Leistung ist.
„Gut", sagt sie dennoch zu meiner Gruppe und ruft dann die anderen Tänzer auf die Tanzfläche. „Wir machen danach noch einen zweiten Durchgang. So könnt ihr am besten voneinander profitieren."
Die zweite Gruppe, in der auch Miles mittanzt, legt sofort los, als die ersten Klänge des Liedes erklingen. Während einige der Tänzerinnen etwas Mühe mit der emotionalen Umsetzung zu haben scheinen, bleibt mein Blick an Miles und Talia, einer noch sehr jungen Tänzerin, hängen. Sie beide legen so viel Stärke und dennoch Verletzlichkeit in ihre Bewegungen, dass ich eine Gänsehaut kriege. Kombiniert mit der Musik treten unwillkürlich Tränen in meine Augen. All der Schmerz, den ich in der vergangenen Stunde aus dem Raum verbannen konnte, kehrt mit einem Schlag zurück.
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Lila Lichter
Romance"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...