Kapitel 33: Trauer

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Trotz ihres Streites konnte Imani nicht anders, als sich um Zira zu sorgen. Es war sechs Monate her, seit Vitani weggelaufen ist, und Zira war nicht sie selbst. Sie war still und verbrachte die meiste Zeit in ihrer Höhle. Sie ging nur noch, um Wasser und Essen zu holen. Manchmal, spät in der Nacht, konnte Imani Zira's Schluchzen hören.

Das letzte Mal, als Zira sich ähnlich verhalten hatte, war nach Scar's Tod. Aber so schlimm war es nicht gewesen. Als Scar starb, war Zira wütend gewesen. Aber das hier hatte keine Spur von Wut. Es war nur eine Mutter, die über den Verlust ihrer Tochter trauerte, auch wenn sie nicht tot war.

Zira's niedergeschlagene Stimmung beeinflusste das Rudel mehr als je zuvor. Spannung hing schwer in der Luft. Alle waren still und wenn Zira ab und zu ihre Höhle verließ, kam ihr niemand in die Quere. Imani behielt sie mit Nuka im Auge, der bei seiner Mutter in der Höhle blieb.

Eines Abends betrat Imani die Höhle mit Sorge im Gesicht. Sie fand Zira im hinteren Teil, den Kopf zwischen den Pfoten und Tränen in den Augen. Eine schwacher Punkt in Imani's Herz war selbstlos genug, um Mitleid mit Zira zu haben, aber sie hatte teilweise das Gefühl, dass Zira es verdient hatte.

"Zira, das ist jetzt lange genug so gegangen", sagte Imani.

Zira's Ohren zuckten. "Es ist sechs Monde her."

Ihre Stimme war rau und tief. Sie sprach aus Niederlage.

"Genau", stimmte Imani zu.

"Es ist sechs Monde her, seitdem ich meine Tochter verloren habe", fuhr Zira fort und stand auf.

Imani trat einen Schritt zurück. Sie konnte fühlen, wie sich zwischen ihr und Zira Wut aufbaute.

"Sechs Monde. Es ist jetzt lange genug so gegangen", wiederholte Imani.

"Weißt du wie es sich anfühlt, ein Kind zu verlieren, Imani?"

"Nein, weiß ich nicht."

Zira setzte sich auf und sah sie mit funkelnden Augen an. Die Tatsache, dass jemand ihr sagte, sie solle aufhören, sich so zu benehmen, war ziemlich verärgernd.

"Dann fühle ich mich verpflichtet, dir zu sagen, dass es nicht im Geringsten angenehm ist und dass ich jedes Recht habe, so zu fühlen, egal, wie lange es dauert. Also wage es nicht, mir zu sagen, dass es 'lange genug so gegangen' ist, wenn du nicht weißt , wie es ist!" Zira kämpfte darum, nicht vor Wut und Traurigkeit in Tränen auszubrechen.

Imani verlagerte ihr Gewicht. Zira's Stimme war unangenehm streng und ruhig. Die meiste Zeit konnte Imani erkennen, ob Zira Mühe hatte, nicht auszurasten. Diesmal jedoch schien die Anführerin in ihren Gefühlen unberechenbar.

"Ich dachte, du hasst Vitani." Imani traf einen empfindlichen Punkt.

Zira fauchte und brüllte Imani ins Gesicht. Zira's mütterliche Seite hatte die volle Kontrolle, doch ihre Aggressivität blieb.

Imani fiel zu Boden. Zira stand über ihr und fletschte die Zähne.

"Zweifle nicht an meiner Liebe zu meiner eigenen Tochter!", knurrte sie.

"Zweifel?! Du hast selbst gesagt, dass du sie hasst!", erwiderte Imani.

Zira trat zurück und setzte sich. Imani rollte sich auf den Bauch und sah ihre Feindin an. Zira sah verzweifelt mit gesenkten Ohren zu Boden.

Sie sah gerade traurig genug aus, um Imani bereuen zu lassen, was sie gesagt hatte.

"Sie ist meine Tochter. Sie ist vielleicht nicht das Kind, das ich wollte, aber sie gehört trotzdem mir. Egal wie sehr ich sie hasse, es wird immer einen Teil von mir geben, der um sie trauert", erklärte Zira traurig.

Imani konnte leicht erkennen, dass ihre alte Freundin nicht sie selbst war, da sie extrem bipolar und empfindlich war. Tränen entwichen Zira's Augen, und in diesem Moment war es ihr egal, dass Imani dort stand.

Imani fühlte sich plötzlich gezwungen, ihre Ex-beste Freundin zu trösten. Sie fürchtete aber auch, was passieren würde, wenn sie sich vorbeugte, um Zira zu umarmen. Sie war dafür bekannt, solche Gesten nicht gut zu nehmen.

Mit großem Zögern trat Imani vor und schmiegte sich an sie. Zira schmolz bei Imani's kleinster Berührung. Sie brach in Tränen aus und lehnte sich an die andere Löwin.

Imani war völlig verwirrt und sie würde ehrlich gesagt die beleidigende Zira der emotionalen Mutter vorziehen. Sie war an diese Zira gewöhnt, diese hier war einfach ungewöhnlich.

Imani kämpfte leicht, sie hochzuhalten, und schließlich legten sie sich nebeneinander und Zira legte ihren Kopf in Imani's Pfoten. Ehe sie sich versah, waren Imani's Beine tränenüberströmt. Sie konnte kaum glauben, dass Zira nach sechs Monaten immer noch die Tränen zum Weinen hatte, geschweige denn das Herz zum Trauern.

Schließlich, nach scheinbar endlosen Minuten des Weinens, verwandelte sich Zira's Schluchzen in ein leises Schnarchen, als der Schlaf sie verzehrte. Imani entschied, dass es das Beste wäre, wenn sie sich nicht bewegte, und legte ihren Kopf in Zira's Nacken.

Imani's Absichten, die Höhle zu betreten, existierten nicht mehr. Sie wollte Zira etwas mehr Verstand beibringen und die Achterbahn der Gefühle stoppen, die sich im Schattenland niedergelassen hatte. Aber stattdessen tröstete Imani die eine Löwin, für die sie sich selbst versprochen hatte, nie wieder da zu sein.

Und sie bereute es nicht.

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