Kinder, die in den Krieg hineingeboren waren, kannten die Welt nur als gefährlichen Ort. Sie lernten, seit sie denken konnten, welche Schlachten die Generationen vor ihnen gekämpft hatten, und bereiteten sich darauf vor, eines Tages selbst Teil der Kämpfe in den Tiefen des Waldes zu werden.
Es dachte lange niemand daran, dass das Grauen ein Ende finden würde. Es war zu einem Teil ihres Lebens geworden. Frieden schien nach all den Jahren und all den Toten keine Option zu sein.
Genauso wie die Mauern weiterhin um die Stadt lagen, verweilten die Leute in ständiger Kampfbereitschaft. Selbst, als es schon lange keine Angriffe mehr gab. Die einzigen Menschen außerhalb der Mauern waren Wachposten und Patrouillen, die selbst ein Jahr nach der Erklärung des Friedens weiterhin Position bezogen.
Silas hatte einen Weg gefunden, unbemerkt an ihnen vorbei zu kommen. Um den inneren Ring zu überwinden, gab er sich als Arbeiter eines Batteriekonzerns am Nordtor aus. Der äußere Ring stellte für ihn genauso wenig ein Hindernis dar. Er hatte bereits Jahre zuvor auf seinen Streifzügen an der Mauer entlang ein kleines Loch zwischen den langen Efeugehängen entdeckt und dieses mithilfe eines Steines so weit vergrößert, dass er durchkriechen konnte. Somit hatte er sich einen privaten Ein- und Ausgang geschaffen, für den es keine offiziellen Genehmigungen und Rechtfertigungen brauchte.
Dieser Weg aus der Stadt war seine einzige Möglichkeit für Stille. Im Wald konnte er für sich sein und eine Natur genießen, die andere in seinem Alter nur entfernt von den Dächern der Hochhäuser erahnen konnten.
Abends kam er in ungewöhnlich guter Laune nachhause und erklärte seiner Großmutter auf ihre Frage hin, wo er sich herumgetrieben habe, dass er spazieren gewesen sei, um den Kopf frei zu bekommen. Es war die Wahrheit. Oder zumindest der Teil davon, der ihn nicht in Schwierigkeiten brachte.
Auch Kian missachtete alle Regeln, die er kannte, wenn er einen Ausflug in den Wald wagte. Er wusste, dass er dort nicht mehr in Reichweite des Schutzwalls war. Wahrscheinlich war es genau das, was ihn dazu bewegte, sich immer tiefer voran zu wagen und immer mehr entdecken zu wollen.
Er bewegte sich an einem Ort, der sich der Kontrolle seines Vaters entzog. Jedes Mal aufs Neue fand er etwas, das ihn faszinierte. Dieses mal was dieses Etwas aber nicht Teil des Waldes. Im Gegenteil. Kian hatte sich dafür entschlossen, es – genauer gesagt ihn – im Auge zu behalten, weil er nicht dorthin gehörte.
Seit sein Blick einen schwarzen Haarschopf erfasst hatte, verfolgte er ihn, immer darauf bedacht, sich außerhalb seines Sichtfelds zu bewegen. Kian hatte beobachtet, wie der fremde Junge ziellos zwischen den Bäumen umhergewandert war. Wie er minutenlang regungslos in den Himmel gestarrt hatte. Wie er einer Vogelmutter dabei zugesehen hatte, ihren Nachwuchs zu versorgen. Wie er versucht hatte, ein Eichhörnchen durch Komplimente zu sich zu locken.
Dann war er über eine Wurzel gestolpert und vor ihm auf dem Boden gelandet. Seitdem stand Kian Silas gegenüber und versuche anhand seiner Reaktion seine Gesinnung auszumachen.
Silas wusste genauso wenig mit der Situation anzufangen wie Kian. Er war sich sicher, dass er Kian nicht kannte. Er hatte ihn nie zuvor gesehen.
Silas hielt es für unmöglich, dass Kian ihm schlichtweg nicht aufgefallen sein konnte. Alles an diesem jungen Mann schien zu strahlen. Seine Haare zeigten einen Goldschimmer, der sich auch auf seiner Haut widerspiegelte. Sein Blick war wach und aufmerksam, seine Augen ebenso dunkelblau, wie das Korsett, das er über seinem weißen Hemd trug. Seine breiten Schultern spannten sich über den Stoff und die Muskeln seiner Arme zeichneten sich darunter deutlich ab. Das war nicht die Art von Mann, an der man einfach vorbeigehen konnte, ohne ihn zu bemerken. Es war die Art von Mann, die man dämlich anstarrte, bis die Realität einem ins Gesicht schlug und so im letzten Moment verhinderte, dass einem der Sabber aus dem Mundwinkel tropfte.
Kian versuchte, einzuordnen, was in ihm vor sich ging. Ob er wütend auf sich selbst war, weil er es nicht hinbekommen hatte, unauffällig zu bleiben oder ob er Angst davor hatte, auf jemanden getroffen zu sein, der seinem Vater von seinem Ausflug berichten konnte. In dieser Zeit starrte er den Unbekannten still an. Es war seltsam. Dieses unbekannte Gefühl der Ruhe in ihm. Aber er mochte es.
„Was machst du hier?" Kian klopfte sich den Dreck von den Knien und Händen. Er versuchte so zu tun als sei er sich seines Fehlers nicht bewusst, indem er ihn einfach überspielte.
„Das Gleiche könnte ich dich fragen." Sein Gegenüber verschränkte die Arme. „Du stehst genauso dämlich im Wald rum wie ich. Mit den Flecken auf der Hose wahrscheinlich sogar dämlicher."
Im Reich seines Vaters hätte es niemand gewagt, so mit Kian zu sprechen. Auch nur daran zu denken. Diese Erkenntnis erfüllte Kian gleichermaßen mit Freunde und Angst. Vor allem, weil er Gefallen daran fand.
Der Schwarzhaarige konnte nicht aus dem Königreich kommen. Er war also aus der Stadt.
„Ich wohne in der Nähe."
Silas kniff die Augen zusammen. Im Wald durfte niemand wohnen. Noch ein Jahr zuvor hatte an dem Platz, an dem die beiden nun standen, der Krieg gewütet.
„Ist das nicht gefährlich?"
„Schon."
Genau deshalb kam Kian hierher. Dies war der letzte Ort, an dem er sich aufhalten sollte und somit der letzte, an dem ihn jemand vermuten würde. Er konnte entscheiden, wann und vor allem ob er zurückging. Und obwohl ihn seine Wahl immer zurück zu seinem Thron führen würde, genoss er das Gefühl, diese Entscheidung läge bei ihm.
„Wohnst du alleine hier?"
Diesmal beließ Kian es bei einem Kopfschütteln. Er beschloss, dass es Zeit wurde, selbst in die Offensive zu gehen. „Kommst du öfter hierher?"
Die verschränkten Arme des Jungen lösten sich. „So gut wie immer nach der Schule."
„Wie schaffst du es, dass dich keiner entdeckt?"
Silas zuckte mit den Schultern. „Man muss nur die richtigen Wege kennen. Und die Patrouillen der Vampire sind total unaufmerksam. Die stehen so gut wie immer mit dem Rücken zur Stadt."
Das Wort tauchte Kian in eine Wolke aus eiskaltem Nebel. Er hasste es. Das Wort und das Bild, das die Menschen damit verbanden. Ein Bild, dem er nicht entsprach und nicht entsprechen wollte. Ein Bild, das vor allem eines zeigte: Hass.
„Wir nennen uns Erwachte."
Silas hatte kaum Zeit die Bedeutung, dieser Worte zu begreifen. Sein Handy vibrierte an seinem Oberschenkel. Ohne darüber nachzudenken pulte er es hervor und nahm es Anruf entgegen.
Die Stimme seines Cousins versetzte ihn mehr in Schrecken als die Offenbarung des Unbekannten. Er hatte seine Augen nach wie vor auf seine große, attraktive Gestalt gerichtet, während er sich von seinem Cousin beschallen ließ.
Kian erwiderte seine Blicke. Gleichzeitig setzte er den linken Fuß zurück. Seine Hände streiften die hohen Grashalme und er konnte die feuchte Erde unter seinem Gewicht nachgeben spüren. Der harte Stein des Palastes, auf dem er Laufen gelernt hatte, hatte ihm durch seinen Widerstand Sicherheit gegeben. Eine Kraft, um seinen wackeligen Beinen entgegenzuwirken.
Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm simple Schritte jemals so schwergefallen waren.
Dann schob er das rechte Bein zurück.
Er entfernte sich langsam von Silas und als er es schaffte, seinen Blick von ihm zu lösen, drehte er sich um und rannte los. Weg von ihm und weg von den Fehlern, die er schon damals bereit war zu begehen.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...