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Kian

Meine Mitschüler unterhielten sich über die bevorstehenden Ferien und planten eine Party nach der anderen. Ich hatte mehrere Einladungen erhalten, doch ausnahmslos Absagen verteilt. Ich hatte keine Zeit und ich wusste, dass ich mich dort nicht wohlfühlen würde. Ich mochte ruhige Gesellschaft und tiefgründige Gespräche lieber. Sowie mit Silas.


Die Praxisstunden des Kunstunterrichts sahen immer gleich aus: Alle brüllten wild durcheinander, sprangen durch das Klassenzimmer und benahmen sich wie Wilde und die Lehrerin zog sich in den Nebenraum zurück, da sie von der Lautstärke Kopfschmerzen bekam und ihre Bemühungen, etwas dagegen zu unternehmen, keine Wirkung zeigten.

Silas war der Einzige, der nicht spontan zu einem wildgewordenen Affen mutierte. Er saß stumm neben mir, meistens hörte er Musik, und zeichnete.

Am liebsten wollte ich alleine mit ihm sein. Nur Stille um uns herum, das Gefühl von Ruhe in meinem Bauch und Flattern in meinem Herzen. Ich wollte ihn ansehen, stundenlang. Mir jeden Nanometer seines Äußeren einprägen, seine Gesichtsform identifizieren, seine Züge verinnerlichen und lernen, wo sich jede seiner Sommersprossen befand. Und dann, wenn ich wieder zuhause war, und nachts nicht schlafen konnte, wollte ich ein perfektes Abbild von ihm zu Papier bringen und es ansehen, jedes Mal, wenn ich mich einsam fühlte. Ich dachte sogar darüber nach, es meiner Mutter zu zeigen. Ich wollte von ihr hören, wie hübsch er sei und dass sie ihn gerne kennenlernen wollte. Er sollte mein Reich sehen und mit mir erkunden dürfen.

Ich kannte mich nur mit der Geographie aus. Den Fakten wie vorhandene und schwindende Ressourcen, Grenzen, gefährliche Bereiche, Einwohnerzahl, Nutzen und Funktion des Schutzwalls... Doch ich wollte es sehen. Erleben. Jede Straße, jedes Haus, jede Ecke, jeden Baum, ja jeden verdammten Grashalm. Und so wie ich Silas kannte, würde er gern an solch einer Expedition teilnehmen.

Ich musterte ihn von der Seite. Er saß gebeugt über dem Tisch und bemalte sein Blatt so, dass ich kaum etwas davon sehen konnte. Sein Gesicht war von seinen schwarzen Wellen bedeckt. Alles, was ich erkannte, war seine Zungenspitze, die aus seinem Mundwinkel ragte, sowie immer, wenn er hochkonzentriert an etwas arbeitete.

Ich tippte seine Schulter an. Er hob den Kopf und nahm einen Kopfhörer aus dem Ohr.

„Brauchst du was?"

„Ich wollte mit dir reden. Ist dir jetzt oder nach der Stunde lieber?"

„Jetzt geht auch." Sein Blick huschte zu meiner Zeichnung. Er beugte sich zu mir, um sie sich genauer ansehen zu können. „Wow, woher kannst du das so gut?"

„Ich hatte fast 10 Jahre Zeichenunterricht."

„Krass. Wie wär's, wenn wir Bilder tauschen und ich deine 15 Punkte kassiere?"

Das brachte mich zum Schmunzeln. „Können wir machen. Dann sind wir quitt."

Ich schob mein Blatt auf seine Seite des Tisches und seines auf meine. Wenn ich hier und da ein paar Optimierungen vornahm, sah ich keinen Grund, dem nicht auch die Bestnote zu geben.

„Aber die Burger will ich trotzdem!"

„Selbstverständlich", lächelte ich.

Unser verabredetes Treffen wollte ich mir unter keinen Umständen nehmen lassen. Ich konnte es jetzt schon kaum erwarten, in der Zweisamkeit mit ihm abzuschalten, herumzualbern, über tirgendwelche Sachen zu reden oder ihm mein Herz auszuschütten.

Sobald er in der Nähe war, setzte sich das Chaos in meinem Inneren zur Ruhe, der Sturm meiner Gedanken und Gefühle legte sich und die Zeit schien aufzuhören, mir davon zu rasen. Dann ging es nicht mehr darum, von einer Verpflichtung zur nächsten zu hetzen und möglichst viel möglichst schnell zu erreichen. Nein, dann ging es um das Leben. Darum, wie mein Herz schlug, wenn er auf mich zukam. Darum, wie mein Atem stillstand, wenn er lachte. Und darum, wie die Welt aufhörte sich zu drehen, wenn ich auf seine Lippen sah.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt