Kian
Nachdem ich mich von den Strapazen des Tages reingewaschen hatte, gesellte ich mich zu Silas. Er saß auf dem Fensterbrett, sein Kopf lehnte an dem weißen Holz des Rahmens, sein Blick hatte sich am Horizont festgesetzt und ein Buch lag geschlossen in seinem Schoß.
„Wie fühlst du dich?", fragte ich ihn leise.
„Platt. Aber ich glaube nicht, das ich schlafen kann."
„Soll ich dir von dem Buch erzählen?" Ich deutete auf den Roman, den er sich aus meinen Regalen genommen hatte.
Er ließ seinen Blick über das Cover wandern und schüttelte den Kopf. „Ich will es selbst lesen, sobald ich mich konzentrieren kann. Aber du darfst mir sagen, was dein Lieblingsbuch ist."
„Oh nein, ich muss mich entscheiden? Bitte zwing mich nicht dazu!"
„Ich würde dich niemals zu etwas zwingen."
Wir sahen einander an und ich wusste, es gab nichts mehr zu sagen. Worte wurden überflüssig. Versprechen waren bedeutungslos. Taten zählten.
Ich stellte mich näher an ihn heran. Vermutlich sogar etwas zu nah. Aber ich wollte bei ihm sein. Ich wollte ihn spüren. Ich wollte, was ich nicht haben konnte.
Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an mich, wurde immer ruhiger je länger wir so verblieben. Bald legte ich die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Dadurch gab ich ihm den Halt, nach dem er verlangte und nahm mir die Nähe, nach der ich mich sehnte.
Lächelnd blickte ich auf seinen schwarzen Haarschopf herab. Auf mein fragendes Flüstern seines Namens reagierte er nicht. Er war eingeschlafen. Und ich war glücklich.
Das Geschehen der gesamten Welt spielte sich nur noch hier ab. Alles außerhalb meines Gemaches zerfiel zu Staub. Es gab keine Leute mehr, keine Forderungen, keine Zeit. Nur uns.
Silas brummte unzufrieden, als ich ihn vorsichtig in meinem Bett ablegte. Ich hatte nicht riskieren wollen, ihn aufzuwecken, keinesfalls. Aber Nackenschmerzen wollte ich ihm auch nicht zumuten.
„Bleib bei mir", murmelte er, noch während ich meine Arme von ihm nahm, und tastete blind um sich.
Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, schob ich mich hinter ihm auf die Matratze und legte die schwere Decke über uns. Silas murrte verschlafene Laute und drehte sich, um mich anzusehen, konnte seine Augen aber nicht offenhalten.
„Du bist müde."
„Ich will nicht schlafen."
Wir nutzten nicht einmal die Hälfte meines Bettes. So konnte ich die Wärme seines Körpers spüren.
„Ich kann dich aufwecken, wenn es Neuigkeiten gibt."
„Nicht deswegen. Ich will", er seufzte, „ich will das hier nicht verpassen...Mit dir hier zu sein." Er legte die flache Hand an meiner Brust ab, ehe er seinen Kopf daran schmiegte. „Ich mag nicht einschlafen und dann die Augen öffnen und diese Zeit mit dir nicht genutzt haben."
Ich musste lächeln. „Okay. Dann bleiben wir wach."
Silas schlug die Augen auf. Dankbarkeit sah mir entgegen, Freude und Zuneigung.
„Erzähl mir was", forderte er dann.
„Was denn?"
Silas überlegte. Dabei schlich sich ein verschmitztes Grinsen auf seine Lippen: „Ein Geheimnis."
Ich schmunzelte. Alle Sorgen und Ängste waren verschwunden. Meine Gedanken hatten sich meinen Gefühlen unterworfen und ließen sich von meinem Herzen beherrschen. Es war ein absolutistischer Machthaber. Es wusste genau was es wollte und tat alles, um es zu bekommen. Kein Argument war stark genug, ihm zu widersprechen. Selbst die Logik hatte begriffen, dass ihr Kampf verloren war, und zog sich in voller Demut zurück.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...