Silas
Am späten Abend stand ich Kian an der Haustür gegenüber. Er hatte mir seine Gremien und Termine erklärt und ich wusste, dass er in das Reich seiner Eltern musste, um im Inneren Kreis zu erscheinen.
Ich bat ihn darum, mich anrufen, wenn er zuhause war und hoffte, er könne mir dann berichten, dass ihm niemand sein Fehlen in der Ratssitzung übelgenommen hatte.
„Es wird spät werden. Du solltest schlafen und nicht auf meinen Anruf warten."
„Und wenn ich zufälligerweise nicht schlafen kann?"
Ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. „Dann wirst du zufälligerweise mitbekommen, wie ich dich anrufe, weil ich unbedingt nochmal deine Stimme hören will, bevor ich einschlafe."
„Das klingt nach einem Plan. Mal sehen, ob er zufälligerweise aufgeht."
Mit meinem hartnäckigen Lächeln musste ich mittlerweile aussehen wie ein manischer Psychopath. In Kians Blick lag ein ähnlicher Wahnsinn. In einem anderen Leben, einem Leben als Pirat, musste er den Schatz, nach dem er jahrzehntelang besessen gesucht hatte, ebenso angesehen haben wie mich.
„Du starrst mich schon wieder an."
„Immer noch."
Ich schüttelte grinsend den Kopf und schob ihn von der Treppe, die er hinabgehen musste, um zur Straße zu gelangen.
„Du solltest gehen. Das hast du selbst gesagt."
„Wirfst du mich gerade raus?"
„Ja."
Kian lachte. „Ich mag deine Ehrlichkeit."
„Der Innere Kreis mag deine Anwesenheit. Am besten pünktlich."
Eine schaurige Ernsthaftigkeit krallte sich an seinem Gesicht fest. Es war erschütternd wie schnell er sein Lächeln verlieren konnte.
„Dem kann ich leider nicht widersprechen."
Er breitete die Arme aus und machte einen kleinen Schritt auf mich zu. Seine stille Bitte kam ohne Verzögerung bei mir an. Ich presste mich so fest an ihn, dass er beinahe von der letzten Stufe stolperte.
„Austin würde jetzt sagen: Bist ja ganz schön stürmisch, Kleiner."
„Psst. Mach den Moment nicht kaputt", murmelte ich an seine Schulter.
Ich drückte ihn mit eiserner Entschlossenheit, in der Hoffnung, dieses Gefühl würde sich in seinem Bewusstsein verankern und er könne sich immer daran erinnern, wenn er Halt brauchte oder die Gewissheit, dass er nicht allein war. Ich konnte zwar nicht mit ihm gehen, aber er sollte wissen, dass ich für ihn da war. Ich wollte ihm Sicherheit geben. Denn das war es, was er mir gab. Durch ihn wusste ich, dass es jemanden gab, der den Krieg genauso verabscheute wie ich. Er auf dem Thron bedeutete Gerechtigkeit. Verständnis. Frieden. Ich glaubte an ihn und ich wollte, dass er sah, dass alles, was er jetzt tat, sich irgendwann auszahlen würde. Keine seiner Mühen war umsonst. Und keine Energie verschwendet.
Beim Abendessen warf meine Familie mir von allen Seiten neugierige Blicke zu. Ich versuchte sie zu ignorieren, aber sie blieben hartnäckig und zerrten an meinen Nerven.
„Habt ihr irgendwas zu sagen?"
Alica schien auf so eine Aufforderung gewartet zu haben. „Hattet ihr Sex?"
„Was?! Nein!"
Das stand komplett außer Frage. Wir hatten uns heute zum ersten Mal umarmt und das war schon eine große Sache für uns. Es gefiel mir, dass allein seine Hand zu halten, so viel bedeutete. Es machte alles, was wir hatten, unglaublich wertvoll und das wollte ich niemals riskieren. Vielleicht würde eine Zeit kommen, in der er mit direkten Berührungen einverstanden war. Dann konnte ich über sowas nachdenken. Körperkontakt... Küsse... leidenschaftliche, hemmungslose, endlose Nächte voller Stöhnen und...
„Naw, guckt doch, wie rot er wird!" Boris streckte sich über den Tisch, um mir entzückt in die Wange zu kneifen.
Ich schlug seine Hand weg. „Wenigstens komme ich nicht daher wie ein Zombie. Jetzt mal ehrlich, Boris, wann hast du bitte das letzte Mal geschlafen?"
Die letzte Woche konnte ich bei der Tiefe seiner Augenringe ausschließen. Kaffee und Energiedrinks schienen alles zu sein, was ihn momentan am Leben hielt.
„Netter Versuch, das Thema zu wechseln, kleiner Cousin. Aber so leicht kommst du mir nicht davon."
Ich verdrehte bloß die Augen und ließ ihn reden, während ich meine Nudeln aß und eindeutige Blicke mit Oma austauschte. Ich wollte nichts über ihr nicht vorhandenes Sexleben wissen und ihr ging es mit mir wahrscheinlich genauso.
„Okay, aber was habt ihr dann den ganzen Nachmittag gemacht?", hakte Alica weiter nach.
„Geredet, Alica. Wir haben miteinander geredet. Stell dir vor."
„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, einen Vampir zu nutzen, um unsere Hütte fertig zu kriegen?"
Warum hat Papa mich damals nicht einfach in einem Kinderheim abgeben können?
„Frag doch Charlie. Er hilft dir bestimmt gerne, wenn du aufhörst, ihn bei jeder Gelegenheit anzuzicken."
„Sicher nicht", schnaubte Boris. „Gib mir noch zwei Wochen, dann habe ich ihn so sehr auf die Palme gebracht, dass er den Vertrag von sich aus auflöst."
„Welchen Vertrag?"
Oma sah mich kritisch an, während ich ihr erklärte, was Boris mir erklärt hatte. Sie lauschte gespannt, nickte verstehend und wandte sich dann an Boris.
„Wenn du diesen Vertrag so dringend auflösen möchtest, dann geh doch zum König und besprich das mit ihm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit deinem Plan sehr weit kommen wirst."
Ich stimmte Oma durch ein Nicken zu, dankbar darum, dass es nun nicht mehr um mich und mein verkorktes Liebesleben ging.
„Charlie hat es schon 10 Jahre mit Austin ausgehalten. Er ist es gewohnt, genervt zu werden, wenn du mich fragst."
„Tja, nur leider habe ich dich nicht gefragt", zischte Boris mir zu. „Echt, ich bekomme Kopfschmerzen von eurem Gerede. Lasst es mich einfach machen, wie ich es will."
Er begann, sich die Schläfen zu massieren, und Oma und ich vereinbarten durch einen Blick, unsere Versuche, ihn zur Vernuft zu bringen, aufzugeben.
Alica und ich verbrachten den weiteren Abend vor dem Fernseher. Wir schauten uns Aufnahmen an, die wir mit meinem Vater auf dem Schießstand gemacht hatten, und nahmen uns vor, uns nochmal an unserem alten Hobby zu versuchen.
Seit sie mit dem Turnenaufgehört hatte und sich nicht mehr mit ihren Freundinnen trag, wollte sie umsomehr mit mir unternehmen. Sie hatte nie darüber geredet, was damals beim Shoppenvorgefallen war, aber sie schien darüber hinweg zu sein und ich war der letzte,der jemanden dazu drängen würde über etwas zu reden, das man vergessen wollte
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...