Silas
Als Kind sieht man die Welt ganz anders. Man muss erst lernen, dass hinter Worten wie Vertrauen, Liebe und Freundschaft umfassende Konstrukte stecken, die unglaublich viel Macht über unser Leben und unsere Beziehungen innehaben.
Ich hätte Tom nicht als einen Freund von mir bezeichnet. Trotzdem war es schwer zu übersehen, dass er bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, für mich da war.
Er hatte meine Diskussion mit den Sekretärinnen darüber, ob ich alleine nachhause laufen durfte, nachdem ich mich krankgemeldet hatte, mitbekommen und angeboten, mich in der Pause zu fahren, um sicherzustellen, dass ich heil ankam. Mit dem Einsatz seines Charmes erreichte dieser Typ alles.
Kians Geständnisse hatten mich zutiefst erschüttert und ich sah es als mein gutes Recht an, mich in meinem Bett zu verkriechen. Ich saß also bei Tom im Auto und sah verloren aus dem Fenster. Auf seine Frage, ob ich darüber reden wolle, was wirklich los sei, antwortete ich nicht.
Dass er mir das mit den Kopfschmerzen nicht abkaufte, war klar. Ich hatte nicht mal versucht es glaubhaft rüberzubringen. Mir fehlte die Kraft dazu. Ich wollte nur noch nachhause. Nichts tun, nichts sagen, nichts denken, nichts fühlen.
„Amelie wird mir den Arsch aufreißen, wenn sie hiervon erfährt", plauderte Tom vor sich hin. „Ich werde ihr einfach sagen, dass es dir halt nicht gut ging. Sie tut zwar immer so als würde sie dich am liebsten tot sehen, aber sie hat dich schon noch ganz gern."
Das mit Amelie und mir... Das war der Inbegriff von kompliziert gewesen. Sie verliebt in mich, ich verliebt in ihren Bruder, ihr Bruder wahrscheinlich nur verliebt in sich selbst.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich zukünftig aus Drama rauszuhalten. Den Rückzug anzutreten, wenn es schwer wurde, weil ich gelernt hatte, dass es sich nicht lohnte zu kämpfen. Warum ich das mit Kian über Bord geworfen hatte, warf und immer wieder werfen würde, konnte ich mir selbst nicht erklären.
„Geht's Boris eigentlich besser? Er sieht echt nicht gut aus zurzeit. Letzte Woche in Musik ist er eingepennt und hat auf den Tisch gesabbert. Ein Glück, dass Frau Peters ihn so mag. Bei jedem anderen Lehrer hätte das einen Verweis gegeben und wochenlange Putzarbeiten."
Das einzige, was ich auf Toms Aussagen erwiderte, war ein Dank fürs nachhause Bringen, bevor ich ausstieg, die Tür zu seinem Auto zuknallte und ins Haus schlürfte. Ein letzter Blick zu ihm verriet mir, dass er wartete, bis ich die Haustür geöffnet hatte und mit einem letzten Winken wegfuhr.
Es war 11 Uhr an einem Montagmorgen. Oma war dementsprechend überrascht, mich schon zu sehen. Ich hatte den Plan gehabt, mich sofort in mein Zimmer zu verziehen und zu versuchen alles, was heute passiert war, solange zu verdrängen, bis ich es vergessen hatte. Doch als sie mir gegenüberstand und mich besorgt musterte, konnte ich nicht sagen, dass alles gut war und ich nur alleine sein wollte. Denn ja, ich wollte allein sein, aber nein, es war nicht alles gut. Nichts war gut.
„Kian hat mir was erzählt. Über unsere Familie."
Meine Oma zog die Augenbrauen hoch und schaute mich fragend an.
„Er hat gesagt, wir sind Nachfahren von Jägern."
„Ach hat er das?"
Die Reaktion meiner Großmutter verdeutlichte mir, wie absurd das klang. Sie lachte sogar darüber. Ja wirklich, sie stand mit mir im Flur, trocknete an ihrer Schüssel herum und lachte.
„Ein schönes Schauermärchen hat er dir da aufgetischt. Er wollte dich wohl ein bisschen ärgern, mein Schatz."
„Nein, er meinte es ernst. Er hat gesagt, wir riechen nach Jägerblut und... Zumindest der Teil muss stimmen."
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...