Boris verabscheute Leute, die sich einbildeten, ihm etwas vorschreiben zu können. Niemand konnte über ihn bestimmen oder ihm etwas verbieten. Und Charlie, so beschloss er, dieser überdimensionale Vollidiotenvampir, würde sein blaues Wunder erleben, wenn er es weiterhin versuchte. Nicht nur, dass er Boris für sein Eigentum erklärt hatte, auch, dass Boris sowas von Austin erfahren musste, in dem Moment, als er ihm mitteilte, dass er deshalb die Stadt verließ... Das war an Feigheit kaum zu überbieten.
Boris hatte zwei Tage gehabt, um sich alles, was er Charlie an den Kopf werfen wollte, genauestens zu überlegen. Obwohl der Schock und vor allem die Wut nicht mehr ganz so tief saßen, glaubte er, genug Kraft aufbringen zu können, Charlie gewaltig in den Arsch zu treten, falls das nötig werden würde.
Charlie saß mit Anna und Maddy an einem Tisch auf dem Pausenhof. Bis Boris sich zu ihnen gestellt hatte, hatten sie sich unterhalten. Dass er sie dabei störte, war ihm egal. Charlie musste ihm Rede und Antwort stehen, ob er wollte oder nicht.
„Ich muss mit dir reden."
„Ich habe mich schon gefragt, wann du auf mich zukommst."
Charlie wirkte weder beeindruckt davon, dass Boris ohne Rückendeckung zu ihm gestampft war, noch davon, dass er sich trotz des schmerzhaften Ausgangs ihres letzten Gesprächs traute, überhaupt mit ihm zu sprechen.
„Weil du nicht die Eier hattest zu mir zu kommen und dafür grade zu stehen, was du fabriziert hast?"
Boris entging Annas Schmunzeln nicht. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. Daraus schloss er, dass Charlie nicht oft die Leviten gelesen bekam. Es wurde also höchste Zeit.
„Nein. Ich renne Menschen nur nicht gerne hinterher."
Charlie erhob sich von der Bank und legte dadurch das doppelte an Körpergröße zu. Boris schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und deutete zum Schulhaus.
„Dann nach dir, du arrogantes Sackgesicht."
Charlies nahm sich einen Moment, um ihn herablassend anzufunkeln, bevor er vorranging.
„Hey, Kleiner!"
Boris wusste, dass er gemeint war. Und obwohl er sich allein der Bezeichnung wegen weigern wollte, sich anzuhören, was Anna zu sagen hatte, war er doch neugierig.
„Er hat seine Gründe. Sei nicht ganz so hart zu ihm."
„Das kann ich nicht versprechen."
Boris folgte Charlie in relativ großem Abstand. Er schaffte es nicht, ihn einzuholen und verfluchte ihre unterschiedliche Beinlänge, die dafür verantwortlich sein musste.
Charlie war groß, schnell und stark. Alles, was Boris zu bieten hatte, war eine viel zu große Klappe und nichts, womit er sich verteidigen konnte, wenn diese ihn in Schwierigkeiten brachte. Er wusste das. Kaum zu fassen, dass er sich trotzdem darauf einließ, Charlie hinter das Schulhaus zu folgen, wo weit und breit niemand war, der ihm im Notfall zur Hilfe eilen konnte.
Knapp neben der Ecke, um die Charlie gebogen war, blieb Boris stehen. Charlie hatte das Gesicht verzogen und warf den Mülltonnen abwertende Blicke. Hier stank es dermaßen, dass man den Geruch selbst nach drei Wäschen nicht mehr aus den Klamotten bekam. Die Erfahrung hatte Boris persönlich gemacht, als er sich in der Unterstufe zum Rauchen hinterden Tonnen versteckt hatte.
„Also, um gleich zur Sache zu kommen...", Boris stand angewurzelt an Ort und Stelle. Er tat keinen Schritt und es interessierte ihn nicht, dass Charlie es wagte, das Gegenteil zu tun. Er war hier, um zu bekommen, was er wollte. Um Charlie klarzumachen, dass er keine Macht über ihn besaß und dass er kein Recht hatte, sich in sein Leben einzumischen. Davon würde er sich durch nichts abbringen lassen. „...vergiss diesen Gefährtenscheiß wieder. Ich will damit nichts zu tun haben."
Charlie blieb einen knappen Schritt vor Boris stehen. Boris musste den Kopf in den Nacken legen, um seinen Feind weiterhin hasserfüllt anzusehen.
„Lass es mich dir erstmal erklären. Dann kannst du immer noch entschieden, was du davon hältst."
Boris schnaubte. „Da gibt es nichts zu entscheiden. Ich kann dich ja nicht mal leiden."
„Das ist sehr interessant, wenn man bedenkt, wie schnell dein Herz schlägt, wenn du mich siehst."
"Das schlägt so schnell vor Wut", behauptete Boris. Seinetwegen sogar aus Angst. Ihm war jede Erklärung lieb, nur nicht die einer magischen Verbindung, die sie zu Seelenverwandten machte.
„Natürlich. Mein Fehler." Charlies Worte waren tief in Ironie getränkt. „Dass es uns nicht gefällt, ändert nichts daran, dass es wahr ist."
„Klar!" Boris konnte es nicht fassen. "Du erhebst einen kranken Anspruch auf mich und tust so als seist du das Opfer. Das ist so typisch!"
Charlie tat doch wirklich so als hätte Boris auch nur die geringste Schuld an diesem ganzen Schlamassel. Dabei hatte er, bis Charlie ihn für Sein erklärt hatte, nicht gewusst, dass sowas wie Gefährten überhaupt existierten. Er hatte es sich weder ausgesucht, angeblich ausgerecht zu ihm zu gehören, noch genoss er es auf die kleinste Art und Weise. Und falls auch nur ein Fünkchen Wahrheit in Charlies Aussagen steckte, sollte er gefälligst dankbar sein, Boris abbekommen zu haben und nicht so tun als würde er unfassbar darunter leiden, fand Boris.
„Ich hätte das nicht getan, wenn ihr mir eine andere Wahl gelassen hättet."
„Es hat dich keiner gezwungen, diesen Vertrag aufzusetzen und damit zum König zu rennen und ihm solange in seinen majestätischen Arsch zu kriechen, bis er-"
„Du solltest aufpassen, was du sagst, Boris. Mich zu beleidigen ist die eine Sache. Aber von meinem König redest du gefälligst mit Respekt."
Boris hasste den Klang seines Namens aus Charlies Mund. Alles an dieser Situation erinnerte ihn viel zu sehr an seinen Vater. Er rechnete fest damit, jeden Moment gesagt zu bekommen, was für eine Enttäuschung er sei und die kommenden Schläge über sich ergehen lassen zu müssen. Doch davor fürchtete er sich nicht. Nicht mehr. Er hatte verstanden, dass, was sein Vater mit ihm gemacht hatte, falsch gewesen war. Dass kein Kind der Welt es verdient hatte verprügelt zu werden. Und dass kein Erwachsener das Recht hatte, das zu tun. Egal, welche Vorwände er gehabt hatte, egal welche Schuldzuweisungen. Es war schwach, sein Kind zu schlagen. Vielleicht auch verzweifelt, aber vor allem schwach. Er hatte also keine Angst mehr vor Gewalt. Er bemitleidete sie. Und jeden, der es für nötig hielt, sie einzusetzen.
Aber Charlie schlug nicht zu. Noch nicht, glaubte Boris.
„Sonst was, mh? Was könntest du mir schon antun, Charlie?"
Boris versuchte, Charlies Ton zu imitieren. Er scheitere an dem bedrohlichen Unterton und der tiefen Stimme. Auch hochnäsig zu klingen schaffte er nicht. Stattdessen hörte er sich an wie eine hysterische Ziege im Stimmbruch.
„Ich versuche, euch zu schützen."
„Wer's glaubt. Du hast doch keine Ahnung, was zwischen Austin und mir ist."
„Oh doch." Charlies Nicken sah seltsam aggressiv aus. Er hatte die Lippen zusammengepresst und, als Boris seinen Atem an sein Gesicht prallen spürte, merkte er, wie nah Charlie ihm gekommen war. „Ich rieche sein Blut in deinen Adern."
Die dunklen, rauen Töne, die von seinen Lippen sprangen, bescherten Boris eine Gänsehaut. Jedes verdammte Haar an seinem Körper stellte sich auf und ein Schauer zog sich durch jede seiner Poren.
„Sobald du wieder nüchtern bist, wirst du sehen, was du dir dadurch angetan hast."
Langsam, fast schon widerwillig, richtete Charlie sich auf und sah ebenso distanziert zu Boris herab wie eh und je. So als sei eben gar nichts gewesen. Und Boris verfluchte es, aber ja, da war etwas gewesen. Etwas, das verhinderte, dass er etwas tun oder sagen konnte. Etwas, das seinen Körper einfror und sein Hirn erstickte. Er war gefangen. Und es fühlte sich gut an.
„Wenn ich mir sicher bin, dass ihr einander nicht mehr schaden werdet, löse ich den Vertrag auf. Bis dahin kannst du mich gerne weiter anschreien, mir Vorwürfe machen oder mir sagen, dass du mich hasst. Das wird nichts daran ändern, dass ich dich beschütze, egal, wie schwer du es mir machst."
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...