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Silas

Mein Talent für Provokation hatte meine Lehrer noch nie begeistert. Früher hatte ich das durch gute Leistungen ausgeglichen, war im Unterricht aktiv gewesen und hatte auch außerhalb davon viel Verantwortung übernommen. Trotz meiner frechen Art war ich Lehrerliebling Nummer eins gewesen. Ein richtiger kleiner Streber. Ich hatte zu den Schülern gehört, die jeden kannten, sich mit jedem gut verstanden und von jedem bewundert oder beneidet wurden.

In der Mittelstufe, nach dem Tod meines Vaters, war es steil bergab gegangen. Im Unterricht war ich - wenn ich anwesend gewesen war - meist in der breiten Masse untergegangen und Noten waren wahrscheinlich gewürfelt worden. Ich hatte mir jede der auswendig gelernten Ansprachen, die der Direktor Problemkindern hielt, mehrmals angehört und konnte inzwischen mitsprechen.

Im Gegensatz zu Boris war ich nicht mit einem hohen Intellekt oder viel Charme gesegnet. Wahrscheinlich nicht einmal mit einem vergleichbaren Maß an Mut. Mich während der Predigt des Direktors demonstrativ zu Strecken und mein Desinteresse durch ein lautes Gähnen kundzutun, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Ich erkannte Grenzen an und überlegte mir genau, ob ich es riskieren wollte, sie zu missachten.

Nach der Besprechung pressten sich unsere Mitschüler durch die Tür, um der Anwesenheit Daulands möglichst schnell zu entkommen. Es reichte schon eine Sekunde im selben Raum mit ihm und der Drang, ihm ins Gesicht zu schlagen, überwältigte einen beinahe.

Boris wartete, bis so gut wie alle verschwunden waren, bevor er sich erhob und ich stand in der Zeit ungeduldig daneben und spielte an den Schnallen meines Rucksacks herum. Die Erwachten waren in ein Gespräch mit dem Direktor verwickelt, doch ich spürte seine Blicke auf mir brennen. Sie entfachten ein Feuer, ein heißes, wildes Feuer, das ich um nichts in der Welt löschen wollte.

Wenige Momente später stand ich direkt neben ihm. Kian. Dem Prinzen. Meiner unverhofften Waldbekanntschaft. Bisher hatte ich es mir nicht erlaubt zu hoffen, dass er einer derjenigen sein würde, der zu uns kommen sollte. Ich hatte weder seinen Namen noch seinen Rang gekannt. So saß der Schock umso tiefer.

Obwohl ich Probleme damit hatte, einen klaren Gedanken zu fassen, entging mir nicht, wie Boris unsere neuen Mitschüler beäugte. Ihm schien nicht wohl dabei zu sein, so wenig Distanz zu ihnen zu haben.

Er hatte sich zu leicht von Kians Brüllen beeindrucken lassen. Alles, was er sah, war eine Gefahr. Aber das war er nicht. Das konnte er nicht sein.

Als die Tür hinter dem letzten Schüler zufiel, brach Dauland das ernste Schweigen.

„Ich bin ganz ehrlich, Silas. Mir gefällt deine Entwicklung ganz und gar nicht. Das mit deinem Vater tut mir natürlich leid, aber das ist kein Grund-"

Obwohl der Tod meines Vaters fast zwei Jahre her war, war das Thema für mich noch immer tabu. Ich redete nicht darüber, ich wollte nichts darüber hören, ich dachte nicht mal darüber nach. Und ich weigerte mich, damit anzufangen, weil der Direktor sich einbildete, auf diese Art zu mir durchdringen zu können. Das einzige, was er erreichte, war das Auslösen der Reaktion, die immer auf die Erwähnung meines Vaters folgte: Abblocken.

„Er hat nichts damit zu tun."

Für Dauland war mein Vater ein Soldat, der im Krieg gefallen war. Einer der vielen Namen auf einer Tafel, die unsere Helden ehren sollte. Aber für mich war es mit dem Überreichen eines Titels und einer Medaille nicht getan. Ich hatte den Menschen verloren, der mich jeden Morgen mit einem Lächeln empfangen hatte.  Der auf jede meiner Fragen Antworten gewusst hatte. Dessen Umarmungen Sicherheit und Heimat für mich bedeutet hatten. Zu dem ich aufsah, seit ich denken konnte. Den Menschen, den ich über alles liebte. Ich würde dem Direktor also nicht dabei zuhören, wie er Verständnis heuchelte, um mich zu tadeln. Denn während mein Vater jahrelang für uns gekämpft und schließlich sein Leben gegeben hatte, gehörte er zu denjenigen, die bis zuletzt gehofft hatten, den Krieg gewinnen zu können.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt