Silas
Kian meldete sich nicht mehr bei mir. Auf der Suche nach Erklärungen dafür hatte ich mich auf zwei Szenarien festgelegt:
A) Entweder er konnte endlich besser schlafen und fand daher keine Zeit, sich bei mir zu melden. Oder
B) er bereute, was zwischen uns vorgefallen war und hatte beschlossen, mich bis auf mein Lebensende mit Verachtung zu strafen.
Ich war unglaublich erleichtert, ihn Montagmorgen in der Schule zu sehen, und lief direkt auf ihn zu. Boris' Kommentar darüber blendete ich aus. Auch seine Freunde, die um ihn herum versammelt waren, ignorierte ich. Für mich zählte nur noch herauszufinden, warum er so fertig aussah. Seine Augen trugen nicht nur Erschöpfung, sondern auch Traurigkeit in sich. Es tat weh, das zu sehen.
„Hey." Ich versuchte es mit einem Lächeln.
Er schaffte es nicht, es zu erwidern. „Guten Morgen."
„Du hast dich gar nicht mehr gemeldet."
Ich wollte nicht vorwurfsvoll klingen und die Zicke geben, die sich einbildete wichtiger zu sein als alles andere in seinem Leben. Ich wollte nur wissen, was los war. Irgendwas musste vorgefallen sein.
„Lass uns in der Pause reden." Er versuchte sich nochmal an einem Lächeln, das erneut kläglich scheiterte.
Ich stimmte mehr oder weniger einverstanden zu.
Ein Blick zu meinem Cousin, der nur dazu gedient hatte, Kian nicht weiter anzustarren, verriet mir, dass er seinen Joint-Entzug aufgegeben hatte. Er kiffte seelenruhig vor sich hin, mitten auf dem Schulgelände. Es waren weniger als 5 Monate bis zu unseren Abschlussprüfungen und er schien nicht davon auszugehen, dass Dauland es wagen würde, ihn so knapp davor der Schule zu verweisen. Oder er dachte nicht über sie Auswirkungen dessen, was er da machte, nach. Das hielt ich, nachdem er den Rauch extra in Charlies Richtung blies, für wahrscheinlicher.
Mit grimmigem Blick kramte Charlie in seinem Rucksack herum, um Boris einen Umschlag hinzustrecken. Ich warf einen kurzen Blick darauf und erkannte, dass er mit dem Königssiegel verschlossen war.
„Für dich", sagte Charlie. „Vom König."
Da Boris nicht reagierte, nahm Alica den Brief für ihren Bruder an. „Tut mir echt leid, dass Boris so ein Dummkopf ist, Charlie. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du einen anderen Gefährten findest?"
„Null."
„Und, wenn er tot ist?"
Charlie zog die Augenbrauen hoch, während er Alica dabei beobachtete, wie sie den Brief öffnete, als hätte sie nicht gerade beiläufig über den Tod ihres Bruders gesprochen.
„Nach wie vor null. Seinen Gefährten zu finden ist so besonders, weil es so unwahrscheinlich ist. Es sind immer nur genau zwei Seelen füreinander bestimmt. Dass diese mit ihrem Leben zeitlich und örtlich aufeinandertreffen, ist einzig und allein dem Einfluss des Schicksals geschuldet. Sowas kann man nicht einfach ersetzen oder es ignorieren."
„Vielleicht ist es auch nur die Kombination von Zufall und dem Wunsch, dass mehr dahintersteckt", brummte Boris, während er auf den Umschlag des Briefes, den Alica ihm abgenommen hatte, mit der Asche seines Joints einen Penis malte. Keiner machte sich die Mühe, das zu kommentieren.
Alica überflog die Nachricht des Königs. „Wieso ist nur Boris eingeladen? Ich will auch auf einen Vampirball."
„Ich kann versuchen, meine Eltern davon zu überzeugen, zwei Einladungen mehr zu verteilen, falls ihr Interesse habt."
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...