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Silas

Diese Zeit war von Unsicherheit geprägt. Niemand hatte Gewissheit darüber, wie es weitergehen würde und niemand wagte es, sich auf dem, was wir wussten, auszuruhen. Dabei ging es nicht nur um den Frieden und die Integration, sondern auch um persönliche Perspektiven. Wie viele andere aus meinem Jahrgang wusste ich für die Zeit nach meinem Abschluss nichts mit mir anzufangen. Weder das Angebot an Ausbildungsplätzen, noch Studienfächern oder Jobs sagte mir zu.

Alica wusste, dass ich mir viele Gedanken darum machte. Sie war zwar genauso planlos wie ich, stand dem aber deutlich lockerer gegenüber. Um Geld mussten wir uns keine Sorgen machen und Oma war die verständnisvollste Person auf diesem Planeten. Der einzige, der Druck auf mich ausübte, war ich selbst.

Es war wie in meinem Hirn nach einer Vokabel zu graben, von der ich genau wusste, dass sie da sein musste. Wie die Antwort vor Augen zu haben, aber sie dennoch nicht zu sehen. Ich hatte das Gefühl, es müsse sich nur ein einziger Schalter umlegen, eine kleine Sache ändern und plötzlich würde alles Sinn machen und ich wüsste genau, was das Richtige für mich sei. Aber ich hatte keine Ahnung, wo dieser Schalter zu finden war und ob es ihn überhaupt gab.

Noch vor zwei Jahren wäre das simpel gewesen. Alle Jungs, die physisch in der Lage gewesen waren, waren sechs Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag ins Militär aufgenommen worden, um sich einem Crashkurs zu unterziehen. Sobald die Volljährigkeit erreicht war, stünde man auf dem Schlachtfeld. Falls man es schaffte, die ersten fünf Jahre zu überleben, blieb einem die Wahl, als Soldat "Karriere" zu machen oder auszutreten und sich zum Spott der Gesellschaft zu machen.

Nun schien, was damals selbstverständlich gewesen war, undenkbar. Und keiner konnte wissen, ob die Lage sich nicht wieder drastisch ändern würde.


Alica und ich verbrachten den Nachmittag am See. Während ich im Schutz des Sonnenschirms sinnierte, bräunte sie sich einen Meter weiter.

Schon vor einer Stunde war mir eine Gruppe junger Leute aufgefallen. Einige von ihnen kannte ich aus der Schule. Tom hatte sich gleich nach seiner Ankunft mit Alica und unterhalten. Er hätte sich gerne angesehen, wie die Erwachten Fußball spielten, hielt es aber für wichtiger, vorsichtig zu sein. Die Verletzungsgefahr sei ohnehin schon nicht gering und von der Fairness, wenn ein paar Halbstarke gegen übernatürliche Superwesen spielten, wollte er gar nicht erst anfangen.

Trotzdem hatte ich Tom vorgeschlagen, nochmal mit dem Trainer darüber zu reden. Vielleicht gab es die Möglichkeit, uns selbst entscheiden zu überlassen, ob wir mit den Erwachten spielen wollten, wenn wir uns aller Gefahren und Umstände bewusst waren.

Dann hatte Amelie ihn zu sich gerufen wie einen Hund, der sich von der Leine losgerissen hatte. Einzig, dass er auf allen Vieren, hechelnd und sabbernd zu ihr zurückgelaufen war, hatte gefehlt.

Ich hatte genügend, das mich beschäftigen sollte. Und dennoch konnte ich nicht aufhören, an Kian zu denken. Ich wollte mehr über ihn erfahren. Mir anhören, wie es war, ein Prinz zu sein. Ihn fragen, warum er zum Lesen in den Wald ging, wenn er ein ganzes Königreich zur Verfügung hatte. Erfahren, ob mein Alltag, den er gerade durchlebte, sehr befremdlich für ihn war. Ob er sich hier bei uns wohlfühlte.

In den Kursen, die wir zusammen hatten, zeichnete er viel und in den Pausen beobachtete ich ihn von meinem Platz an den Feuertreppen aus. Manchmal wünschte ich mir, er würde zu mir hochsehen. Und oft wünschte ich mir, er würde neben mir stehen. Aber mir war auch klar, dass das Dinge waren, die nicht passieren würden und nicht passieren sollten. Er musste präsent sein und sich nicht zusammen mit einem Einzelgänger verstecken. Wozu denn auch? Um zweisame Momente zu erleben und über Schokoriegel zu verhandeln? Wohl kaum.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt