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Silas

Durch einen Blick auf Social Media hatte ich erfahren, dass  alle Welt Interesse an mir zeigte. Ich war deshalb von ein paar Tagen Trubel ausgegangen. Ein bisschen Lästereien hier, ein bisschen unnötiges Geschwafel da. Damit, dass sich Reporter vor meinem Haus scharen würden und sturmklingelten, sodass meine Oma die Polizei rufen musste, um sie wieder loszuwerden, hatte ich nicht gerechnet.

Ich hatte keine Gelegenheit gefunden, ausführlich mit Boris und Alica über diese Jägersache zu reden. Egal, wo wir hingingen, und das war mittlerweile nur noch von zuhause direkt in die Schule und wieder zurück, uns klebten irgendwelche Leute am Arsch, die uns Fragen zubrüllten und ungefragt Bilder von uns machten.

Alica hatte einem von ihnen mächtig eins auf die Nüsse gegeben, weil er mir zugerufen hatte, ob ich ihm ein Interview geben würde, wenn er es mir als Gegenleistung ‚richtig schön' besorgte.

Ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte, dass sie angefangen hatte, mich zu eskortieren. Sie machte sich Sorgen um mich, das war klar. Aber ich war groß genug, um auf mich selbst aufzupassen. Ich brauchte niemanden, der mich verteidigte, schon gar nicht mit Gewalt. Obwohl das bei Alica verdammt cool ausgesehen hatte... Mein Punkt war jedoch, dass ich nicht das Opfer in dieser Geschichte sein wollte.

Noch vor zwei Jahren hätte solch eine Situation ohne jeden Zweifel einen Nervenzusammenbruch bei mir ausgelöst. Das gestand ich mir ein. Aber ich hatte gelernt, mich selbst zu akzeptieren und nach all den Reden von Boris über Freundschaft und Zusammenhalt wusste ich, die einzige Unterstützung, die ich brauchte, war die meiner Familie.

Meine Sexualität war nichts, wofür ich mich schämen würde. Wie andere damit umgingen, war mir auch egal. Respektloses Verhalten, intolerante Aussagen... Es ging mir problemlos an meinem schwulen Arsch vorbei.

Was mich störte, war was dieser hartnäckige Versuch Kian auf diese Weise zu schaden, für ein Signal sendete. An alle, die damit nicht so gut klarkamen wie ich.

Es gab auf dieser Welt sicher irgendwo einen kleinen Timmy, der gerade einen Zusammenbruch erlitt, weil, was momentan in der Öffentlichkeit passierte, seine Alpträume wahrwerden ließ. Dass Leute sich vor ihm ekeln würden, dass sie ihn beleidigen würden, dass sie ihn hassen würden, weil er fühlte wie er fühlte. Er haderte sicher mit sich und redete sich ein, nein betete, es würde vergehen. Er hatte Angst, seine Eltern zu verlieren, seine Geschwister, seine Freunde, alle, die ihm lieb waren. Und wer weiß, vielleicht erschien ihm das alles so aussichtslos, dass er zu Alkohol, Drogen oder gar der Rasierklinge griff.

Ich war nicht dazu bereit, der Held des kleinen Timmy zu werden. Ich konnte mich nicht vor diese Kameras stellen und ein herzzerreißendes Statement abgeben, das dazu führte, dass alle ihre Meinung änderten und verstanden, was sie durch ihr Benehmen anrichteten. Dass die Welt etwas heller wurde. Und ich war sicher der letzte, der sowas wie Sympathie oder auch nur Verständnis erwarten konnte, nachdem diese Bilder von meinem Absturz publik geworden waren.

Der Grund, warum ich es noch nicht geschafft hatte, mit Alica und Boris über unsere Familienkrise zu reden, lag auch darin, dass ich unsicher war, wie sie reagieren würden. Sie hatten ein Recht es zu erfahren, das stand außer Frage. Doch war jetzt der richtige Zeitpunkt? Gab es sowas wie einen richtigen Zeitpunkt überhaupt? Und wie sollte ich etwas erklären, das ich selbst nicht verstand?

Oma machte sich darüber keine Gedanken. Sie benahm sich weiter wie zuvor. Verbrachte den ganzen Tag mit Blumen gießen, kochen, backen, singen, Schach spielen und Omasein. Sogar mir gegenüber verhielt sie sich als sei niemals etwas vorgefallen.

Kurz dachte ich darüber nach mitzuspielen. So zu tun als seien wir die Protagonisten einer viel zu langweiligen Sonntagabendsendung für Senioren, die ausschließlich als Einschlafhilfe diente. Doch das konnte ich nicht. Und jedes Mal, wenn ich versuchte reinen Tisch zu machen, kam mir etwas dazwischen. Kinder, die Steine an unsere Fenster warfen, nervige Reporter, die nicht lockerließen, Alica, die sich über all das beschwerte...

Dann war da noch meine Sorge um Boris. Er hatte irgendwann in der vergangenen Woche aufgehört zu reden und mental anwesend war er schon lange nicht mehr. Alica hatte sich daran erinnert, dass sich die Frontotemporale Demenz ihrer Mutter auch so gezeigt hatte.

Wir hatten damit angefangen, Boris zu beschatten und alle Symptome, die uns aufgefallen waren, zusammenzutragen. Nach nur wenigen Tagen waren wir uns sicher, dass wir ihn zu einer entsprechenden Untersuchung schleppen mussten.

Wir haderten mit uns, ob wir unsere Vermutung mit ihm teilen wollten, wie wir es Oma sagen sollten, wie wir ihn zum Arzt kriegten... Ohne zu wissen, dass es soweit niemals kommen würde.


Ich wollte einen letzten Versuch wagen, Boris aus seinem Bett zu bekommen. Sein Alltag bestand nur noch daraus, sich morgens in die Schule zerren zu lassen, dort apathisch herumzusitzen und sich dann wieder ins Bett zu begeben. Er aß kaum etwas, von trinken musste ich gar nicht erst anfangen und für Kiffen fehlte ihm an schlechten Tagen auch die Energie.

Wenn ihn etwas auf die Beine bringen konnte, dann war es Musik. Er sollte mir etwas vorspielen, singen, mir seine neuen Lieder zeigen... Irgendwas. Aber das konnte er nicht.

Er lag in seinem Bett. Regungslos und blutverschmiert. Oma war schon vor Stunden gegangen, um sich mit einem alten Freund in der Stadt zu treffen. Die einzige Person, die ich also auf die Schnelle zur Hilfe rufen konnte, war Alica.

Im ersten Moment klang ihre Stimme noch genervt. „Was?" Daraus wurde schnell ein panisches: „Scheiße!"

Wir knieten uns zu Boris auf die Matratze. Seine Bettdecke war nass geschwitzt und sein Körper so heiß, dass ich ihn nicht berühren konnte, ohne die Hand reflexartig zurückzuziehen.

Er war bis aufs Äußerste angespannt, krampfte immer wieder und presste schmerzerfüllte Töne hervor. Seine Wangen waren bedeckt von dem Blut, das aus seinen Augen quoll.

Das hatte nichts mit frontotemporaler Demenz zu tun.

Ich traute mich nicht, ihn zu berühren. Alica dagegen packte ihn und schüttelte ihn durch, während sie panisch seinen Namen schrie. Es tat sich nichts.

„Ich rufe einen Krankenwagen", murmelte ich Alica zu.

Meine Bewegungen fühlten sich seltsam an. So mechanisch. Mein Handy fiel mir beinahe aus den Fingern, als ich mit steifen Daumen die Nummer des Notdienstes eintippte. Es hatte noch nie so lange gedauert, drei Ziffern zu finden.

Boris entkamen immer wieder Laute, die keiner von uns verstand. Bis ich einen Namen hörte. Mein Finger schwebte über dem grünen Anrufsymbol, bereit dazu, den Krankwagen zu rufen, als Boris nach meinem Unterarm griff, seine Fingernägel schmerzhaft in meine Haut bohrte und wiederholte: „Austin!"

Ich tauschte einen Blick mit Alica. Ihr Nicken veranlasste mich dazu, die Zahlen wieder zu löschen und nach Boris' Handy zu greifen, das auf seinem Nachtkästchen lag.

Die Aufzeichnung seiner Anrufe ließ mich stocken. Boris hatte die letzten Wochen mindestens hundert Mal versucht, Austin zu erreichen. Er war nie rangegangen.

Ich glaubte kaum, dass es dieses Mal anders sein würde. Trotzdem tippte ich auf den Hörer, stellte auf Lautsprecher und legte das Handy in meinem Schoß ab, während ich in meinem Smartphone nach Maddys Nummer suchte.

Sie hatte sich vor Monaten mit mir verabreden wollen. Spazieren gehen und plaudern. Ich hatte aus purer Höflichkeit zugesagt, aber nie vorgehabt, es tatsächlich so weit kommen zu lassen. Dass mir das mal zum Vorteil werden würde, hatte ich nicht gedacht.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt