Silas
Wer auch immer beschlossen hatte, unsere Doppelstunde Sport auf Mittwochmorgen zu legen, musste entweder seit Ewigkeiten nicht mehr sportlich aktiv gewesen sein oder extrem sadistisch veranlagt. Ich würde eine grausame Entscheidung treffen müssen:
- Entweder die Pause fürs Duschen opfern, vorausgesetzt unser Sportlehrer entließ uns rechtzeitig.
- Oder den ganzen Tag unangenehm riechen und verzweifelt mit einer halben Dose Deo dagegen ankämpfen.
Der einzige Grund, den Tag nicht schon am Morgen zu verfluchen, war mein lieber Cousin. Er verhielt sich komisch seit letzem Abend, redete kaum mit mir und dachte krampfhaft darüber nach, über etwas Unauffälliges nachzudenken.
Die meisten der Jungs waren bereits umgezogen und hingen jetzt am Handy oder unterhielten sich über das bevorstehende Semester, als wir die Kabine betraten.
Boris, Alica und ich hatten für die Oberstufe exakt dieselben Fächer gewählt und uns eingebildet, so würden wir zusammen in den Kursen landen. Natürlich war das nicht passiert. Das war das erste Halbjahr, in dem ich mit Boris Sport hatte. Die perfekte Gelegenheit, ihn in seine Schranken zu weisen.
Als älterer Cousin war er von klein auf stärker, schneller und besser gewesen als ich. Mittlerweile war ich etwas größer als er und konnte auch sonst gut mithalten. Es kratzte an seinem Ego, dass ich meinen Spaß daran hatte, mich mit ihm zu messen. Dabei sah ich nur gute Chancen und ergriff sie. Ich wusste, worin ich ihn schlagen konnte und nur darauf ließ ich mich ein. Boris hatte das Problem, dass er in allem der Beste sein wollte. Es war es nicht gewohnt zu verlieren und wusste nicht damit umzugehen.
Die unterschiedlichen Einflüsse unserer Väter spielten in diesem Punkt sicher eine Rolle. Meiner hatte immer gemeint: „Gib dein Bestes, das ist vollkommen genug."
Onkel Anton war der Meinung gewesen, ein Sohn müsse sich die Liebe und Anerkennung seines Vaters verdienen. Und das hat Boris nie.
„Silas!" Er zischte meinen Namen voller Abscheu.
Ich war so verpeilt gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie er seine Sporttasche geöffnet und seine Überraschung zu Gesicht bekommen hatte.
„Ja?", fragte ich unschuldig.
„Wo ist meine Sporthose?"
„Keine Ahnung. Meinst du die?" Ich nahm die Hose aus meiner Sporttasche und zeigte sie ihm. Er griff danach, doch ich ließ sie nicht los.
„Gib sie her!"
„Vergiss es!"
Mit einem kräftigen Ruck konnte ich sie ihm entreißen, sprang auf und flüchtete um die Bänke in der Mitte der Umkleide herum.
„Silas!" Der wütende Klang meines Namens aus seinem Mund war Musik in meinen Ohren. „Wenn ich dich erwische!"
„Was dann?", lachte ich.
„Dann bist du sowas von fällig!"
Er jagte mich sechs Runden um die Bänke. Unsere Mitschüler schauten belustigt dabei zu und zogen ihre Schultaschen an sich heran, weil wir immer wieder darüber stolperten. In meiner siebten Runde erkannte ich die Erwachten mit perplexem Blick in der Tür stehen und Boris, der gerade mit Vollgas in Austins Arme rannte. Ich nutzte die Gelegenheit, mich umzuziehen und hatte somit gewonnen.
„Bist ja ganz schön stürmisch, Kleiner." Austin hatte seine Hände an Boris Oberarmen und stellte ihn wieder aufrecht hin.
„Ich bin nicht klein", brummte mein Cousin.

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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...