Kian
Ich hatte die mir zur Verfügung stehenden Mittel genutzt, um mehr über die Person herauszufinden, mit der Silas so vertraut abgelichtet worden war. Dadurch, dass die Presse gute Vorarbeit geleistet hatte, war es ein leichtes gewesen seine Identität herauszufinden. Benjamin Christopher Mielich. Seine kleine Schwester Amelie war mir mit zur Schule gegangen. Bis auf sie und ihre Eltern war nicht viel an Familie zu finden gewesen. Keine Großeltern, Tanten, Onkels oder sonstige Verwandten.
Ich kam nicht nur an versiegelte Polizeiberichte über seine Jugendsünden, sondern auch an Einzugsbescheinigung der Bundeswehr, Trainingsprotokolle, Krankenakten und Leichenbefund. Nach wenigen Minuten wusste ich mehr über diesen Jungen als über mich selbst.
All das führte mich zu dem Schluss, dass es ein schrecklicher Tag für Silas gewesen sein musste. Obwohl ich wahrscheinlich der letzte war, dem er sich deshalb anvertrauen würde, wollte ich ihm versichern, dass ich nach wie vor für ihn da war. Aber er reagierte auf keinen meiner Anrufe und beantwortete keine meiner Nachrichten.
Nach einer Woche legte sich der Nachrichtensturm ein wenig. Ich wollte die nächsten Tage versuchen, freie Stunden zu finden, um Silas zu besuchen. Wenn ich vor seiner Haustür stand, würde es ihm nicht mehr so leichtfallen, mich zu ignorieren.
Unser Gespräch von Montag und wie er mich dabei angesehen hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Immer, wenn ich meine Augen schloss, dann sah ich ihn vor mir, erschöpft und enttäuscht. Jedes Mal wurde ich ein Stückchen wütender auf mich selbst.
Ich hatte ihm nie wehtun wollen oder ihn in eine Lage bringen, in der ihm von anderen wehgetan wurde. Die ganzen Kommentare im Netz, die Urteile, dieser Hass... Das hatte er nicht verdient. Silas war nicht die Person, die die Presse aus ihm machte. Ich wollte jedem, der ein schlechtes Wort über ihn verlor, am liebsten die Kehle rausreißen. Sie sollten langsam und qualvoll an ihrem eigenen Blut ersticken. Und ich wollte jedem, der ihn auch nur schief anschaute, sorgfältig die Augäpfel rauspulen und sie stetig und schmerzhaft in meiner Faust zerquetschen. Ich wollte, dass sie vor ihm auf die Knie gingen und um Verzeihung winselten. Sie sollten verstehen, was sie falsch gemacht hatten und es aus tiefstem Herzen bereuen, auch nur ein einziges negatives Gefühl in einem guten Menschen ausgelöst zu haben. Sie sollten es mindestens tausend Mal so schlimm zurückbekommen.
Ich musste mit ihm reden, auch, um von ihm zu hören, dass nicht ich die Person war, die diese Bestrafungen verdient hatte. Nur meinetwegen war er zur Zielscheibe geworden. Nur meinetwegen buddelten Fremde in seiner Vergangenheit herum und gingen mit jedem Detail davon an die Öffentlichkeit. Sie wollten ihn bloßstellen in der Absicht, mich bloßzustellen. Dabei konnte sich keiner von ihnen vorstellen, was er mir bedeutete.
Unsere Zeitschriften stellten es so dar, als seien die Menschen ein schlechter Einfluss auf mich. Als sei Silas' gesamte Generation verdorben und würde uns mit sich in den Abgrund reißen. Viele nutzen das als Argument, die Integration abzubrechen. Dass die ausgearbeitete gemeinsame Verfassung noch nicht offiziell war, würde die verlangte Segregation schnell möglich machen.
Doch es gab nicht nur negative Resonanz. Einzelne formulierten ihre Freude über meinen Kontakt zu den Menschen. Sie machten Witze darüber, dass Silas dafür sorgen sollte, dass der „Stock in meinem Arsch" verschwand. „Sieht so aus als könnte man viel Spaß mit ihm haben. Vielleicht lockert er unseren Prinzen endlich auf", hatte jemand geschrieben.
Die Menschen unterstellten ihm eine Affäre mit mir. Sie sahen in dem Bild von uns einen traurigen schwulen Prinzen, der nicht offen zu seiner Liebe stehen konnte. Einige hatten angefangen Fanfictions zu schreiben und diese Stück für Stück auf dubiosen Plattformen zu veröffentlichen. Auch hier waren die Meinungen gespalten. Immer überwogen Zweifel, Befürchtungen und Ablehnung. Oder diese waren am lautesten.
Mir war klar, dass wir mit der Verlobung das richtige Zeichen setzten. Das Volk brauchte Beständigkeit und einen Prinzen, den es verstehen und zu dem es aufschauen konnten.
Ich hatte stundenlang mit meinem Vater darüber diskutiert. Dazu war es nur gekommen, weil ich hartnäckig genug gewesen war, ihm überall hin zu folgen und solange auf ihn einzureden, bis ich ihn durch ein Versprechen, die nächsten Tage mit ihm zu kämpfen, davon überzeugen konnte, mir zuzuhören.
Er hatte mich nie gefragt, ob an den Gerüchten was dran war. Ob ich Gefühle für Silas hatte. Er sagte immer nur diesen paradoxen Satz, der meine Lage viel zugut beschreib: „Hinter verschlossenen Türen bist du ein freier Mann."
Maddy war bei einem offiziellen Termin über die Pläne meines Vaters aufgeklärt worden. Als ich sie gefragt hatte, was sie davon hielt, hatte sie gesagt: „Was soll ich davon halten? Es ist der Wunsch des Königs."
Und als ich sie gefragt hatte, was ihr Wunsch sei, hatte sie bloß gelächelt und stumm den Kopf geschüttelt.
Während viele der Bediensteten sich um den bevorstehenden Ball kümmerten, plante meine Mutter in ihrer Kammer schon an meiner Hochzeit. Sie war wohl die einzige, die sich über all das freute. Sie hatte so stolz gewirkt, als mein Vater es ihr erzählt hatte. Das half mir, etwas besser damit zurecht zu kommen.
Charlie und Oliver waren auf der Reise für meine Sicherheit zuständig. Charlie stellte den Trupp zusammen und entschied sich für Waffen, Aufstellungen und Strategien. Oliver würde bald zurückkehren und ihm dabei helfen. Wir hatten Leute, die für unsere Versorgung zuständig waren und welche, die unsere Pferde vorbereiten sollten.
Ich verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek. Offiziell erkundigte ich mich nach Sitten und Gesetzen in Jaynas Reich und frischte meine Kenntnisse der alten Sprachen auf. Inoffiziell versuchte ich herauszufinden, wodurch genau sich ihr Reich von dem meines Vaters unterschied und wie die Grenze dazwischen überhaupt entstanden war. Wenn wir wussten, woher sie kam, war es womöglich leichter, lebendig hindurchzukommen.
Am einfachsten wäre es, mich von Kasimir aufklären zu lassen. Es kam mir jedoch unpassend vor, unvorbereitet und vor allem unangekündigt in seinen Turm zu spazieren und ihn damit zu konfrontieren, dass er mit uns kommen sollte, um uns in Jaynas Reich zu führen.
Niemand hatte mir bisher sagen können, warum er diese Gefahr, zu uns zu kommen, damals auf sich genommen hatte. Ob er verbannt worden war, oder hatte fliehen müssen oder in einem Konflikt mit Jayna stand. Ich wusste nicht, ob ich ihm trauen konnte, und baute daher lieber auf unabhängige, handfeste Quellen.
In alten Geschichtsbüchern fand ich viele Tagebucheinträge und Erzählungen vom Krieg. Dadurch erfuhr ich, dass die Grenze schon da gewesen war, bevor mein Vater sein Reich gegründet hatte. In all den Jahrhunderten musste sie sich immer mehr ausgedehnt haben. Und ich fragte mich wieso.
Eines Nachmittags stattete Ethan mir einen Besuch ab und klärte mich darüber auf, dass mein Vater nach mir verlangt hatte. Es sei dringend, sagte er. Also trottete ich ihm ohne Widerspruch hinterher.
Es erinnerte mich an die Situationen von früher, als ich abgehauen war und mich mit einem Buch in ein Regal zurückgezogen hatte, um zu lesen.
Damals hatte ich es für ein Abenteuer gehalten. Die Rebellion einer kleinen Leseratte. Heute wusste ich, dass es nichts Anderes gewesen war als der Versuch zu fliehen. In all die Welten, die diese Bücher beherbergten und all die Leben, die ich lieber leben wollte als meines.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...