Silas
Woher ich die Motivation nahm mit Boris joggen zu gehen, war mir ein Rätsel. In den letzten zwei Jahren war ich nur aus meinem Zimmer gekommen, wenn ich keine andere Wahl gehabt hatte. Obwohl sich seitdem kaum etwas geändert hatte, schien nun alles anders zu sein.
Ich schaffte es, mich die meiste Zeit über von den Gedanken anderer abzuschotten. Dadurch hatte ich zwar nicht auf wundersame Weise die Lust entwickelt, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, aber es war auch keine allzu schlimme Herausforderung mehr.
Ich kam morgens besser aus dem Bett und freute mich fast schon auf den Schultag. Also nicht auf die Schule an sich, sondern auf die Pausen. Darauf Kian zu sehen, darauf, seine seltsam intensiven Blicke auf mir zu spüren und darauf, Momente mit ihm zu teilen, die mich nach mehr lechzen ließen.
Dass er, Austin und Charlie heute nicht da gewesen waren, hatte in meiner Klasse Fragen aufgeworfen. Die Lehrer hatten uns darüber aufgeklärt, dass Austin für unbestimmte Zeit nicht mehr kommen würde und Charlie und Kian wichtige Termine hätten.
Viele gingen davon aus, es läge an der Auseinandersetzung von Freitag. Sie redeten darüber, dass Charlie derjenige gewesen sei, der Austin angegriffen hätte und dass in Folge dessen der Falsche suspendiert worden war.
Ohne Boris' Insider-Wissen, hätte ich wohl auch nicht verstanden, dass es um viel mehr ging als das. Obwohl... Tatsächlich verstehen konnte ich, was mein Cousin Alica und mir berichtet hatte, nicht. Und für ausführliche Erklärungen war er nicht in Stimmung gewesen. Das war wahrscheinlich einer der Gründe dafür, dass er sich auspowern wollte.
Aus unserer Joggingrunde wurde ein Parcourslauf. Früher hatten wir das ständig gemacht. Einfach rausgehen und sehen, wohin es uns damit trieb. Oder Routen planen und erst nachhause gehen, wenn wir geschafft hatten, was wir uns vorgenommen hatten.
Noch während wir unterwegs waren, dachte ich darüber nach, Kian zu schreiben und mich nach ihm zu erkundigen. Aber ich wusste, dass er sich dazu verpflichtet sehen würde, mir zu antworten und so wäre ich eine weitere von vielen Belastungen, die seinen Alltag erschwerten. Deshalb ließ ich es sein und nahm mir vor, auf unser Treffen zu warten.
Da Boris Dienstagmorgen nicht aus dem Bett zu kriegen war, kamen er, Alica und ich zu spät und total abgehetzt zu unserer ersten Unterrichtsstunde.
Alle Blicke richteten sich auf mich, als ich nach meinem Klopfen in den Raum trat und mich für die Verspätung entschuldigte.
„Silas", der Lehrer seufzte, „verfällst Du wieder in alte Muster? Was hat dich denn heute aufgehalten?"
Herr Gardner war einer der wenigen verständnisvollen und geduldigen Lehrer. Er und Frau Ferbe hatten im letzten Jahr alle Nerven verloren, um für mich einzustehen.
„Lass mich raten: Eine Zombieapokalypse?"
Ein Raunen ging durch die Reihen meiner Mitschüler. Herr Gardner spielte auf meine unglaubwürdigen Entschuldigenden fürs zu spät oder gar nicht Kommen des letzten Jahres an. Zombieapokalypse, Dinosaurier auf dem Weg oder ein spontaner Marsbesuch waren da keine Seltenheit gewesen. Herr Gardner hatte das schon immer für kreativ gehalten.
„Ein Zombie namens Boris", erklärte ich schmunzelnd.
„Verstehe", er deutete zu meinem Platz. „Setz dich bitte. Wir sind bei Seite 32 der Lektüre und suchen nach möglichen Motiven in Kapitel drei."
Als es zur Pause läutete, bat Herr Gardner mich, noch für einen Moment dazubleiben. Alle anderen stürmten also in die Pause und ich blieb im Raum zurück.
Gardner stellte sich neben meinen Tisch. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, während ich meinen Rucksack schloss und schulterte.
„Ich will dich gar nicht lange aufhalten. Es interessiert mich nur: Wie geht es dir hiermit?" In der Hand hielt er ein zusammengerolltes Magazin, das er mir hinstreckte.
Ich nahm es entgegen und sah perplex auf den Namen der Zeitschrift.
„Herr Gardner, Sie lesen die Klatschpresse?"
Schock.
„Hin und wieder."
Meine Belustigung verging schnell, als ich auch das Titelbild und die zugehörige Überschrift sah.
Der Prinz auf neuen Wegen – Was steckt dahinter?
Mein Mund öffnete sich, doch, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schloss ich ihn wieder.
„Aus dieser Reaktion schließe ich, dass du noch nicht davon wusstest?"
Ich schüttelte den Kopf. „Aber das erklärt wenigstens, worüber die Turnmädels gestern in der Mittagspause ihre XXL-Lästerrunde hatten."
Der Blick, den ich Kian auf diesem Bild zuwarf, war eindeutig.
„Was steht in dem Artikel dazu?", fragte ich meinen Lehrer und blätterte die Zeitschrift durch. Eine ganze Doppelseite nur mit diesem Thema.
„Vermutungen darüber, wie ihr zueinandersteht. Wer du bist und warum er sich ausgerechnet mit dir so ablichten lässt. Einige unterstellen ihm, das Bild sei absichtlich von ihm in Auftrag gegeben worden, um ein verborgenes Statement zu setzen."
„Bullshit!"
Kian hatte an diesem Nachmittag sicher alles im Kopf gehabt, nur keine intrigante Politik. Mal abgesehen davon, dass sowas prinzipiell nicht sein Stil war. Und was für ein verborgenes Statement sollte das bitte sein? Sowas hatte er nicht nötig.
Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Kian wartete auf mich. Ich musste zu ihm.
„Danke, Herr Gardner. Aber ich muss jetzt los."
Ich drückte ihm die Zeitung in die Hand und machte mich auf den Weg zu den Treppen. Alles um mich herum blendete ich vollkommen aus, bis ich ihn vor mir sah.
Er saß auf den Treppen, lehnte an die Wand in seinem Rücken und sah auf den Schmetterling, den er in der Hand hielt.
Dass ich gekommen war, hatte er nicht sofort bemerkt. Also stand ich da und sah ihn für einen Moment einfach nur an. Dann hob er seinen Blick und lächelte leicht.
Es sah müde aus, doch ich glaubte in seinen Augen zu erkennen, dass er sich darüber freute, mich zu sehen.
„Entschuldige, dass ich zu spät bin. Mein Deutschlehrer hat mich aufgehalten. Er wollte über diesen komischen Artikel von uns reden."
Kian nickte verstehend. Er nahm die Beine von der Stufe, damit ich mich neben ihn setzen konnte und beobachtete mich dabei wie ich meinen Rucksack auf den Boden sinken ließ und platznahm.
„Hast du ihn gelesen?"
Wieder nickte er. „Zwei Seiten voll mit Schwachsinn. Da hätten sie sich die Tinte wirklich sparen können."
Das brachte mich zum Schmunzeln.
Mein Blick fiel zurück auf den Schmetterling, den er sanft in den Fingern hielt. Ein neckisches Grinsen schlich sich auf meine Lippen.
„Hast du es endlich hinbekommen, einen zu basteln?"
„Das ist der, den du mir gegeben hast."
„Den hast du echt behalten?"
Ich konnte es nicht glauben. Er hatte ihn wochenlang mit sich herumgetragen.
„Du hast gesagt, wenn ich ihn wegschmeiße, breche ich dir das Herz. Und das will ich nicht." Er sah auf und erwiderte meinen Blick. Als er erkannte, dass ich lächelte, tat er es auch. „Das ist wahrscheinlich das wertloseste, das ich besitze, aber ich würde es für nichts in der Welt hergeben."
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Erwacht - Blutlust
МистикаNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...