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Kian

Vierzehn Jahre lang war ich in Schreiben, Lesen, Rechnen, Geschichte, den Lehren der Alten und Neuen Sprachen, Politik und Kämpfen unterrichtet worden. Alleine. Lehrer, die vor Versagensangst kaum dazu fähig gewesen waren zu atmen, Themen, die meine Eltern ausgewählt hatten, und ich.

In einer öffentlichen Schule machte ich ganz neue Erfahrungen. Wir waren mindestens 20 Personen in einem Kurs. Der Stundenplan, die Lehrer und die Mitschüler wurden zugeteilt und es gab gewisse Regeln, an die man sich zu halten hatte. Vor der ersten Unterrichtsstunde hatte Silas uns erklärt, dass man dem Lehrer zuhören sollte, mitschreiben, sich Dinge merken und versuchen, seine Fragen zu beantworten. Für ungefähr 15 Minuten hatte das problemlos funktioniert. Zumindest bei mir. Tatsächlich bemühte sich kaum jemand, mehr als körperlich anwesend zu sein. Die meisten unterhielten sich, lagen schlafend auf den Tischen oder spielten an ihren Handys.

Auch mir fiel es schwer, bei der Sache zu bleiben. Ich konnte es mir aber nicht erlauben, einen unaufmerksamen oder gar gelangweilten Eindruck zu machen und sah daher stur nach vorne und notierte mir hin und wieder etwas, das relevant sein könnte.

Silas und Boris saßen zwei Reihen vor Charlie und mir und somit direkt in unserem Blickfeld. Boris war einer derjenigen, die sich mit ihrem Handy beschäftigten, und Silas bekritzelte ununterbrochen sein Blatt. Meine Versuche zu erkennen, was er zustande brachte, blieben erfolglos.

Er hatte nicht den Anschein gemacht, als würde er mich erkennen und ich hatte beschlossen, es dabei zu belassen. Es würde keinem helfen zu wissen, dass er seit fast einem Jahr in meinem Kopf herumspukte.

Aus dem Nichts schob Charlie mir seinen Block zu und schlug mit seinem Ellenbogen an meinen, um mich darauf hinzuweisen, was er an den Rand seiner lückenhaften Notizen geschrieben hatte: „Wir müssen vorsichtig sein"

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, nachdem ich es geschafft hatte, seine Hieroglyphen zu entziffern. Abgesehen von der Langeweile, die drohte, uns in einen komatösen Tiefschlaf zu treiben, war für mich keine Gefahr zu erkennen. Charlie sah grundsätzlich in jedem einen potenziellen Gegner. Nicht alle waren davon begeistert, dass ich eines Tages König werden sollte. Die Aufständischen sähen in meinem Tod einen epischen Triumph. Seit Jahrhunderten kämpfte Charlie an der Seite meines Vaters gegen sie an, doch erst kurz vor Ende des Krieges hatten unsere Armeen es geschafft, sie so weit einzukesseln, dass sie unfähig waren, großartig Schaden anzurichten.

Bevor ich mich daranmachen konnte zu entziffern, was Charlie noch dazu geschrieben hatte, ertönte mein Name aus dem Mund der Lehrerin und ich sah verwundert zu ihr auf.

„Wie bitte?"

„Ich habe gefragt, ob Sie daran interessiert sind, einen Vortrag zu halten, um uns Ihrer Kultur näherzubringen?"

Ein fragender Blick zu Charlie verriet mir, dass mein Vater damit nicht einverstanden sein würde. Wenn jemand wusste, was in meinem alten Herrn vor sich ging, dann er.

Alle schauten mich erwartungsvoll an. Unter anderem Silas. Ich sah etwas Hoffnungsvolles in seinem Blick, etwas Neugieriges, irgendetwas, das aus meinem Nein ein Ja machte.

„Sehr gerne."

Eine Sekunde des Blickkontakts mit Charlie reichte, um zu verdeutlichen, dass er mir dafür ordentlich die Leviten lesen würde. Ihm zu widersprechen war noch nie eine gute Idee gewesen.

Als Prinz gehört es dazu, die Konsequenzen seiner Taten zu tragen. Das hatte mein Vater mir  früh klargemacht. Dafür musste ich mich nicht nur erklären, sondern auch herausfinden, wie man einen solchen Vortrag hielt. Ich musste jemanden fragen, der sich damit auskannte. Jemanden wie Silas.

Diese Schulstunde dauerte 90 Minuten. 58 davon starrte Charlie mich durchgehend ausdruckslos von der Seite an, ohne ein Wort mit mir zu wechseln.


Während der Pause blieb ich im Raum zurück, um mit der Lehrerin über den Vortrag zu reden. Als ich danach auf den Schulflur trat, ließ Charlie sich keine Sekunde Zeit, um mich zur Rede zu stellen.

„Was sollte das da drin?" Er hielt seine Stimme gesenkt, doch wie er zum Klassenraum deutete machte es unmöglich zu übersehen, wie aufgebracht er war. „Das hier ist eindeutig der falsche Ort für deine kleinen Rebellionen, Kian. Regel Nummer eins: Du tust, was ich sage. Schon vergessen?"

„Nein."

So oft, wie er diese Regeln wiederholte, musste sich meine Intelligenz im Bereich der eines Steines bewegen, um sie zu vergessen.

„Aber nur fürs Protokoll: Du hast nichts dazu gesagt."

Er schnaubte. „Nochmal so eine Aktion und diese Exkursion ist für dich beendet."

Sein ernster Ausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er sagte. Wenn er diese Erziehungsschiene fuhr, strahlte er unglaublich viel Distanz aus. Jedes Mal fühlte ich mich miserabel, selbst wenn ich der Überzeugung war, nichts falsch gemacht zu haben.

„Die Menschen halten uns für Monster. Dieser Vortrag ist eine Gelegenheit zu zeigen, wie wir wirklich sind und mit den ganzen Mythen aufzuräumen."

„Diese Mythen und die Tatsache, dass kaum etwas davon der Wahrheit entspricht, schützen uns, Kian. Die Menschen wollen für den Moment vielleicht Frieden, aber das ist kein Grund, uns so verwundbar zu machen."

Bevor ich ihm erklären konnte, dass ich nicht vorgehabt hatte, ihnen eine Anleitung dafür zu geben, uns reihenweise abzuschlachten, schaltete Anna sich ein.

„Wir sollten auf keinen Fall leichtfertig Informationen preisgeben, das stimmt natürlich." Ihr Blick richtete sich von mir zu Charlie. „Aber Kian hat recht. Was sie nicht kennen, fürchten sie auf jeden Fall. Und so zeigen wir guten Willen."

Sie beteiligte sich nicht oft an solchen Diskussionen. Politik war nichts für sie, laut ihrer eigenen Aussage. Einen Platz im königlichen Rat hatte sie schon vor Jahrzehnten abgelehnt. Wenn sie etwas zu sagen hatte, hatte ihre Stimme jedoch großen Wert.

„Genau. Außerdem sendet es die falschen Signale, wenn wir in ihre Welt gehen, aber ihnen keine Möglichkeit geben, auch was über unsere zu erfahren. Wir sind keine Eindringlinge, sondern Verbündete. Und wir können keine Gemeinschaft werden, wenn wir einander nicht kennen."

Charlie starrte mich die ganze Zeit über ernst an. Nach einem kurzen blick zu Anna, nickte er schließlich. „Okay, aber wir reden vorher mit Benedict darüber und du sagst ihm, was du mir gerade gesagt hast."


Mein Vater ließ sich in dem geforderten Gespräch von mir überzeugen, verlangte aber, dass ich alles, was ich sagen würde, zuvor detailliert mit Charlie absprach. Er machte mir klar, dass er von mir erwartete, nun auch in seinem Reich präsenter zu sein.

Meine Mutter versuchte, ihm bewusst zu machen, dass er viel von mir verlangte. Vor allem so plötzlich. Sie fürchtete, der Stress würde mich überfordern und ihr war es wichtig, dass ich genügend Zeit für mich selbst hatte.

„Keine Sorge, ich kenne meine Grenzen, Mama."  Ich lächelte sie beruhigend an. Sie erwiderte es, doch die Sorge in ihrem Blick verschwand nicht.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt