15

667 66 7
                                    

Kian

In einer Regierung trägt jeder Mitwirkende Verantwortung. Jeder leistet seinen Teil und muss darauf vertrauen, dass andere das Gleiche tun. Eine von Charlies Aufgaben war es darauf zu achten, dass ich meine Pflichten nie aus den Augen verlor. Dass ich jeden Tag daran arbeitete, ein Stückchen besser zu werden. Von klein auf bemühte ich mich darum, dem gerecht zu werden. Anfangs nur, um die stolzen Blicke meines Vaters auf mir zu spüren. Um ihm zu zeigen, dass sich die Zeit und die Mühe, die er in mich investierte, lohnte. Um mir immer mehr davon zu verdienen. Mit den Jahren begriff ich, dass die Welt weit über den Hof meines Vaters hinausging. Dass es da draußen tausende von Leuten gab, die auf mich bauten. Darauf, dass ich ein gehorsamer, wissbegieriger Prinz war, der ein verantwortungsvoller, starker König werden würde.

Als solcher musste ich kämpfen können. Seit ich gehen konnte, trainierte ich regelmäßig mit Charlie. Je älter ich wurde, desto weniger Rücksicht nahm er auf mich. Er baute darauf, mich einzuschüchtern, mich in die Enge zu treiben und zur Verzweiflung zu bringen und so meine Kraft auszulösen. Eine Kraft, die über das pure Sein hinausging. Über Krallen, Reißzähne, Stärke und Geschwindigkeit. Es sollte etwas Besonderes sein. Etwas Einzigartiges. Etwas Mächtiges. Doch ich blieb einfach nur ich. Und das reichte nicht aus. Ich war kein furchtloser und ruhmreicher Held, niemand, der eine Bestimmung, wie sie mir nachgesagt wurde, erfüllen konnte.

Meine Mutter hatte früh angefangen, mir klarzumachen, dass es zu nichts führte, mich unter Druck zu setzen. Zeit sei der Schlüssel für jedes Schloss. Doch genauso wie für meinen Vater trug dieser Satz für mich nur leere Worte in sich. Alles, was die harte Realität bot, trieb mich in eine dunkle Ecke, die nicht einmal das Licht der Hoffnung zu erhellen wagte. Daran konnte Geduld auch nicht viel ändern.

Bislang hatte ich auf keiner Ebene Fortschritte erzielt. Die Menschen scheuten sich vor uns, der Vortrag kam nicht voran, der Rat schoss bei jeder Gelegenheit gegen mich, eine Kraft hatte ich auch nicht zu bieten und Charlie machte aus unserem Kampftraining ein Schlachtfest. Ich taumelte nur noch hin und her, während ich versuche, mir die blutende Wunde am Oberarm zuzuhalten, und Charlie auszuweichen.

„Können wir ohne Krallen weitermachen?", bat ich ihn.

„Glaubst du, deine Feinde wiegen dich liebevoll in den Schlaf, wenn es zu einem Kampf kommt?"

„Wenn du mich umbringst, werden wir das niemals herausfinden."

Die meiste Zeit über wusste Charlie seine Probleme zu überspielen, doch beim Kämpfen war seine mangelnde Kontrolle mehr als deutlich geworden. Meine Vermutung war, dass ihm die Entfernung zu unserem Reich nicht guttat. So weit weg von dem Einfluss der beruhigenden Atmosphäre des Schutzwalls musste es für ihn schwer sein, sich zu beherrschen. Unter anderem dafür war der Wall immerhin da. Aber ihn davon zu überzeugen, zurückzugehen und lieber seinen Aufgaben am Hof nachzukommen, war zwecklos. Seit ich geboren war, war ich seine oberste Priorität.

„Das ist tiefer als ich dachte", gab Charlie zu, nachdem er sich meinen Arm angesehen hatte. „Ich rufe Austin an."

Seine Gereiztheit war wie verflogen. Obwohl Charlie Jahrhunderte an der Seite meines Vaters verbracht hatte, war es leicht, die Unterschiede zwischen ihnen auszumachen. Genau in diesem Moment, als Charlie mich nicht dazu aufforderte, mich zusammenzureißen und das Training solange fortzusetzen, bis er zufrieden war. Als er mich nicht anschrie und mir etwas vorhielt von Gefühlen, Kontrolle und Männlichkeit. Als er akzeptierte, dass ich nicht mehr konnte und mir nicht den geringsten Vorwurf dafür machte.

„Was ist los?" Drei Minuten, höchstens, dann stand Austin bei uns im Garten. Er wirkte abgehetzt und näherte sich mir mit schnellen Schritten an.

Seine Antwort bekam er durch das Blut, das das Gras unter mir benetzte. Er warf Charlie einen kleinen Seitenblick zu, aber verbalisierte den Vorwurf darin nicht, sondern widmete sich mir. „Keine Sorge, das kriege ich ratzfatz wieder hin."

Mit den Krallen schnitt er sich die eigene Handfläche auf und legte seine Hand so an meinen Arm, dass er die Wunde mit seinem Blut bedecken konnte.

Meine Eltern waren schockiert gewesen, als sie von seiner Kraft erfahren hatten. Nur einen Tag später hatte er ein Gemach im Palast bezogen. Was er konnte, hatte nicht bekannt werden dürfen. Dieses Wissen in den Händen der falschen Personen war gefährlich. Für ihn und für uns. Also hatte er schwören müssen, seine Kraft geheim zu halten. Ich war der einzige, an dem er sie anwenden durfte und das auch nur so, dass es keiner außerhalb des Inneren Kreises mitbekam.

Seit fast zehn Jahren war er quasi mein persönlicher Heiler. Charlie hatte ihn mir in einer passenden Situation vorgestellt. Bei einem Versuch, mich vor ihm zu verstecken, war ich von der Krone eines Baumes gefallen und hatte mir alles Mögliche aufgeschürft. Ich hatte gewusst, dass Charlie sich um neue Erwachte gekümmert hatte, doch ich hatte es nicht eingesehen, ihn teilen zu müssen. Meine Eltern hatte ich selten gesehen und Ausflüge waren ohne Charlie tabu gewesen. So war aus meinem Gemach nichts anderes als eine prunkvoll eingerichtete Zelle geworden und aus mir ein beleidigter Gefangener.

Viele der Alten, gerade der Ratsmitglieder, waren ganz groß im Urteilen, doch hinterfragten nie. Für sie war Austin ein verzweifelter Streuner, den meine Eltern aufgesammelt hatten. Verschwendung an Zeit, Platz und Blut. Aber irgendwann, und da war ich mir sicher, würde Austin die Anerkennung bekommen, die ihm zustand.

Diese Heilung dauerte länger als sonst und kurz bevor sich meine Wunde schließen konnte, sackte Austin zur Seite. Ich fing ihn reflexartig auf und verhinderte somit einen schmerzhaften Zusammenprall seinerseits mit dem Boden. Mein panischer Blick richtete sich sofort auf Charlie.

„Bring ihn rein, er braucht Blut."

„Warum sagst du denn nichts? Wolltest du erst ausbluten, bevor du zugibst, dass du nicht mehr kannst?"

Ich legte ihn unsanft im Sofa ab. Seine Augen fielen immer öfter zu und sein Kopf sackte nach unten. Daher hielt ich ihn fest und verlangte mit meinem Blick nach seinem. „Hey! Hey! Erzähl mir von deinem Tag! Du warst mit Boris unterwegs, stimmt's?"

Ein leichtes Nicken. Er war ganz blass und kalt und obwohl ich wollte, dass er redete, war ich über seine Worte nicht erfreut. „Er ist so schön. So wunderschön. Am liebsten will ich ihn für immer ansehen. Und er riecht so gut. Wie eine Blume."

Er schwärmte mehr von Boris als von Magdalena, der Zofe meiner Mutter, in die er sich kurz nach seiner Ankunft am Hof verliebt hatte. Es hatte genau drei Wochen gedauert, dann war er zu ihrem besten Freund übergesiedelt und das war für sechs Tage gut gegangen, bis es ihm zu langweilig geworden war.

Austin lernte gerne viele Leute kennen, er küsste gerne viele Leute, aber weiter durfte er laut den Regeln des Königshauses nicht gehen. So vermieden wir Drama unter den Bediensteten. Austin brauchte meine ausdrückliche Erlaubnis oder die meiner Eltern, um mit jemandem intim werden zu dürfen. Und darum würde er erst offiziell bitten, wenn er sich zu hundert Prozent sicher war, dass mehr daraus werden würde als eine bedeutungslose Affäre. Es wunderte mich selbst, dass er sich daranhielt. An Angeboten hatte es ihm nie gemangelt.

Es dauerte nicht lange, bis Charlie mit dem richtigen Blut für Austin zu uns kam und ich ihm den Becher hinhalten konnte. Reptilien, Fisch und Menschen.

„Oh das tut gut", schnurrte er und ließ den Kopf auf meine Schulter sinken, während er weiter an dem Strohhalm nuckelte.

Ich spürte, wie er von Sekunde zu Sekunde wärmer wurde.

„Wie kann es sein, dass ihn das gerade so umgenietet hat?" Fragend sah ich Charlie an.

Sein strenger Blick lag auf Austin. „Pass gefälligst besser auf dich auf. Du kannst dich zwar heilen, aber du bist nicht unverwundbar. Denk daran, regelmäßig zu trinken und komm bloß nicht auf die Idee, mit deiner Kraft herumzuspielen!"

Austin nickte bloß und schlürfte weiter. Ich konnte zwar sein Gesicht durch die Position nicht mehr sehen, doch war mir ziemlich sicher, dass er die Augen verdreht hatte.

„Du ruhst dich den Rest des Tages aus."

Erst nachdem Austin zustimmend gebrummt hatte, sah Charlie mich an. „Wir reden später." Dann ging er und ließ mich mit meiner offenen Frage zurück.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt