Silas
Klassen und Kurse tummelten sich vor geschlossenen Räumen und warteten auf ihre Lehrkräfte. Bereits am zweiten Tag des Semesters teilten sich Stress und Sorgen die Regentschaft über die Schule. Davon konnte ich mich nicht ausschließen.
Boris und Alica rätselten darüber, wie wir an den Schlüssel rankommen sollten, während ich stumm zwischen ihnen herlief und für mich selbst grübelte. Dauland nach dem Schlüssel zu fragen war keine Option. Abgesehen davon, dass mein Stolz das nicht zuließ, wollte ich ihm nicht die Gelegenheit geben, sich einzumischen. Der Spaßfaktor wäre verloren, sobald die Party als Schulveranstaltung galt. Sinn der Sache war es zu zeigen, dass unsere derzeitige Situation ein Grund zum Feiern war. Ohne Zwang und spießige Aufsichtspersonen. Dass das Ganze geheim stattfinden musste, war also klar.
Alles, was zwischen uns und diesem Spektakel stand, war das Schloss der Turnhalle. Und es gab genug Möglichkeiten, dieses Hindernis zu überwinden. Den Hausmeister betrunken machen und den Schlüssel von ihm klauen, den Direktor auf dem Parkplatz bewusstlos schlagen und ihn ihm abnehmen, nachts im Sekretariat danach suchen... Was genau ich tun würde, wusste ich noch nicht. Aber an fehlendem Einfallsreichtum würden wir definitiv nicht scheitern.
„Hei, Schlafmütze!" Boris klapste mir auf die Wange. „Jemand zuhause?"
Genervt drückte ich seine Hand von meinem Gesicht weg. „Was willst du?"
„Alica hat mir grade recht gegeben. Ich brauche dich, um das zu bezeugen."
Verwundert drehte ich den Kopf zu meiner Cousine.
„Keine Sorge. Nochmal wird das nicht vorkommen."
„Worum ging es denn?"
„Du warst ja voll weg", lachte Boris. „Dass Kian total unerfahren wirkt meinte ich. Und Alica hat zugestimmt."
„Mh", brummte ich nachdenklich. „Das alles ist für ihn bestimmt genauso neu wie für uns. Er wird schon noch in seine Rolle hineinwachsen."
„Er ist doch schon riesig."
Boris verstand nicht, dass es dabei nicht um eine körperliche Größe ging, sondern eine persönliche. Darum, wer er war. In seinem Inneren. Darum, wonach er handelte. Seinen Prinzipien. Darum, was ihn antrieb und darum, was ihn ausmachte. Ich hielt es für unfair, über ihn zu urteilen, ohne in seiner Haut gesteckt zu haben. Die ganze Aufmerksamkeit, die auf ihm lag, sobald er einen Raum betrat und der damit verbundene Druck, immer alles richtig zu machen, waren sicher enorm anstrengend. Damals im Wald hatte er ganz anders gewirkt. Viel lockerer und aufrichtiger.
Nur wenige Minuten später saß ich im Klassenzimmer und ließ die monotone Stimme meines Lehrers gekonnt von mir abprallen. Mir fiel dabei auf, dass es heute noch nicht nötig gewesen war, mich krampfhaft gegen irgendwelche Gedanken abzuschotten. Das brachte mich zum Lächeln.
Greg warf mir dafür einen seltsamen Blick zu. „Was auch immer du eingeworfen hast, ich will es auch haben."
„Ich habe nichts eingeworfen."
Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass ich in diesem Moment auf diese sonst so verhasste Frage „Wie geht es dir?" ehrlich mit „Gut" antworten konnte. Diese Erkenntnis überforderte mich. Es fühlte sich falsch an.
Mein Lächeln war genauso schnell vergangen wie es gekommen war. Ich starrte lustlos auf mein Blatt und malte jedes Kästchen davon einzeln aus. Ich wollte diese Stunde hinter mich bringen. Wie war mir völlig egal.
Die meiste Zeit meines Aufenthalts in der Schule bestand aus dem Kampf gegen den konstanten Drang, aufzustehen und loszurennen, ohne zu wissen wohin. Hauptsache weg. Wenn mir klar wurde, dass ich das nicht konnte, und dass es niemanden gab, der die Erklärung für ein solches Verhalten nachvollziehen konnte, begann ich mich zu fragen, was genau mich davon abhielt, mir einfach in den Kopf zu schießen. Und die Antwort darauf war simpel: Ich besaß keine Waffe.

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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...