11

910 79 31
                                        

Boris

Ratlosigkeit war für Boris kein unbekanntes Gefühl. Seine Kindheit war davon geprägt gewesen, dass seine Eltern seine Schwester regelrecht vergöttert hatten, während er als stummer Beobachter dabei zugesehen hatte, wie sie beschützt, umsorgt und geliebt worden war. Er hatte sich oft gefragt, was er falsch gemacht hatte und wie er es richtig machen konnte. Sich den Kopf darüber zerbrochen, was an ihm anders war. Warum er nicht dazu zu passen schien.

Er hatte nie eine Antwort darauf gefunden. Zugegeben, irgendwann hatte er aufgehört zu suchen. Er war es leid gewesen um etwas zu kämpfen, das niemand sonst für erstrebenswert hielt. Eine richtige, funktionierende, harmonische Familie. Stattdessen hatte er sich abgewandt und Trost in den Armen seines Onkels gefunden, einem verständnisvollen Mann mit solch einem großen Herzen, dass neben seinem Sohn auch noch sein Neffe darin Platz gefunden hatte.

Robins Verhältnis zu seinem Bruder hatte keine enge Bindung zugelassen. Sie waren schlichtweg zu unterschiedlich gewesen. Boris konnte sich vorstellen wieso. Manchmal beneidete er Silas auf dieselbe Art, wie Anton Robin beneidet haben musste. Aber sein Neid führte nie zu Hass.

Boris und Silas teilten ähnliche Werte, Inspirationen und Wünsche. Die Überzeugung, dass es zwischen ihnen niemals so werden könnte wie zwischen ihren Vätern. Und den Antrieb alles zu tun, um dies zu verhindern.

Seine Mutter, Lilian, hatte sich über Boris' innige Beziehung zu Robin und Silas gefreut. Im Gegensatz zu ihrem Mann war ihr bewusst gewesen, dass Boris in ihrer Erziehung zu kurz gekommen war und mehr verdient hatte als kurze Seitenblicke und lieblose Zurückweisung.

Abends, wenn sie ihn ins Bett gebracht hatte, hatte sie sich viel Zeit für ihn genommen. Sie hatte ihm zugehört, ihm vorgelesen und mit ihm gesungen. Ihn beachtet. Boris wusste, Momente wie diese hatte Alica nie mit ihren Eltern geteilt. Sie gehörten nur ihm.

Nach mehr als zehn Jahren war Boris sich nun nicht mehr sicher, ob es diese Momente tatsächlich gegeben hatte. Sie schienen mehr einem Wunschtraum zu entspringen als der Realität. Sein einziger Beweis war ein Blatt Papier. Sein wertvollster Besitz.

Auf diesem Blatt Papier befand sich eine Liste. Seine Mutter hatte sie geschrieben, nachdem seine Lehrerin sie bei einem Elterngespräch darauf hingewiesen hatte, dass Boris keinerlei Interesse daran zeigte lesen zu lernen.

Zunächst hatte die Lehrerin vermutet, er könne es bereits und die Geschichten, die sie in der Schule behandelten, würden ihn langweilen. In allem anderen war er seinen Klassenkameraden immerhin auch um Jahre voraus gewesen.

Lilian hatte schnell begriffen, warum Boris sich so sehr dagegen sträubte, die Aneinanderreihungen von Buchstaben zu verstehen. Er wollte nicht lesen können, weil sie für ihn las. Jeden Abend. Seine Angst, ihre Zuwendung zu verlieren schien so groß gewesen zu sein, dass er sich von den Kindern, mit denen er sonst gerne spielte, bereitwillig als dumm und zurückgeblieben betiteln ließ.

Mit ihm darüber zu sprechen hatte nichts gebracht. Er liebte seine Mutter, doch er vertraute ihr nicht genug, um sich darauf zu verlassen, dass sie ihm noch Geschichten vorlesen würde, wenn er es selbst konnte. Also hatte sie diese Liste geschrieben, ihm überreicht und auf seine Frage, was darauf stand, mit einem simplen Schulterzucken reagiert.

Sein Bitten, Flehen und Weinen hatte zu nichts geführt. Lilian hatte darauf beharrt, dass er die Liste selbst lesen musste. Und das hatte er getan, wenige Wochen später, nachdem ihre Krankheit so rasant vorangeschritten war, dass sie in manchen Augenblicken nicht einmal mehr ihr eigenes Spiegelbild erkannt hatte.

Er hatte jeden Satz gelesen, jedes Wort, vermutlich schon mehr als tausend Mal. Und immer, wenn es ihm schlecht ging und er sich daran erinnern wollte, was seine Mutter an ihm geliebt hatte, tat er es wieder.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt