2

1.1K 110 24
                                    

Kian


Alles hat eine Bedeutung. Jede Entscheidung, jede Tat, jedes Wort hat einen Effekt.

Seit ich denken konnte, wusste ich das. Genauso lange wartete ich auf eine Gelegenheit, mich zu beweisen. Ich wollte ein guter Prinz zu sein, der seinem Volk Sicherheit und Zufriedenheit bietet. Der erste Tag der Integration sollte ein Schritt in diese Richtung sein. Wir zielten auf eine Gesellschaft ab, die in Frieden zusammenlebte und sich nicht von Angst trennen ließ.

Lange, zähe Diskussionen darüber, wer das Reich meines Vaters bei den Menschen vertreten und wie das Ganze aussehen sollte, hatten zu dem Entschluss geführt, an einer Schule zu beginnen, um zu symbolisieren, dass wir als Völker voneinander lernen konnten und einer gemeinsamen Zukunft entgegensahen.

Für mich bedeutete das meinen ersten öffentlichen Auftritt ohne meine Eltern und die Chance, etwas zu bewirken statt mich ständig zu verstecken.

Meine Verpflichtung bei Veranstaltungen, Bällen oder Festen zu präsent sein, hatte nämlich nie bedeutet, tatsächlich daran teilzunehmen. Ich hatte dort sein müssen, um meine Existenz zu beweisen und somit die Macht meiner Eltern zu legitimieren. Dinge, wie mit jemandem zu sprechen oder an den Tänzen teilzunehmen waren ausgeschlossen gewesen.

Dass ich überhaupt Freunde hatte, war meinen zahlreichen „Ausflügen" zu verdanken. Anna, beispielsweise, hatte ich kennengelernt, als ich mich auf der Flucht vor Charlie, dem engsten Vertrauten meines Vaters, in ihrem Garten versteckt hatte. Sie hatte einen amüsanten Nachmittag mit mir verbracht und viel mit mir geredet. Als sie mich abends zurück in den Palast gebracht hatte, hatte sie mir in einer realistischen aber kinderfreundlichen Version von den Kämpfen außerhalb des Schutzwalls erzählt und von dem Schmerz, jemanden so zu verlieren. In diesem Moment hatte ich beschlossen, niemals der Grund für solch einen traurigen Ausdruck bei meinen Eltern sein zu wollen und es für viele Jahre aufgegeben, das Reich zu verlassen.

„Es wird eine Zeit kommen, in der du die Welt da draußen für dich entdecken darfst", hatte sie damals zu mir gesagt. Dieses Mantra Meine Zeit wird kommen hatte mir lange Trost gespendet.

Mir ging viel durch den Kopf, als ich den Menschen schließlich gegenüberstand. Ich kämpfte mit Nervosität und Ängsten und doch wurde ich die Gedanken an ihn nicht los.

Mein Blick glitt suchend über die Menge. Obwohl ich mit der Geschichte der Kriege und ihren Zusammenhängen vertraut war, kamen die Menschen mir harmlos vor. Schwach. Es war schwer zu begreifen, wie gefährlich sie sein konnten. Die meisten von ihnen wirkten nicht einmal besonders intelligent. Oder zumindest verhielten sie sich nicht so. Sie starrten uns an, redeten und tuschelten, manche kreischten, andere kicherten, doch keiner kam auf die Idee, mit uns zu reden. Sie redeten nur über uns.

Dass der Direktor den Raum betrat und um Ruhe bat, schein keiner von ihnen zu bemerken. Sie erschufen einen Lautstärkepegel, gegen den ein Einzelner unmöglich ankommen konnte. Vor allem kein Mensch.

Noch am Morgen hatte ich mir einen 40-minütigen Vortrag von Charlie angehört, in dem er die Regeln, die hier für mich gelten sollten, wiederholt hatte. Er hatte mich auf alle möglichen Gefahren der Menschen und ihrer Welt hingewiesen und mich daran erinnert, dass negativ aufzufallen beinahe so fatal wäre wie schwach zu wirken. Im selben Augenblick, als ich ein donnerndes Fauchen losließ, fiel mir auf, dass das eines der Dinge war, die ich nicht hätte tun sollen. Innerhalb einer Sekunde hatte sich die Schülerschaft verängstigt an die hinterste Wand des Raumes zurückgezogen. Schlagartig war es so still, dass ich mich fragte, ob ich nicht plötzlich taub geworden war.

Das war nicht der richtige Weg gewesen, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Aber es fiel mit verdammt schwer, meinen Fehler zu bereuen, als ich ihn erkannte.

Er saß ruhig auf seinem Stuhl, hatte die Augenbrauen hochgezogen und sah dabei zu, wie meine Reißzähne und Krallen sich langsam zurückzogen. Neugier sprang mir aus seinem Blick entgegen,  ebenso wie Ehrfurcht.

Die Gedanken des letzten Jahres holten mich wieder ein:

Wer war er?

Wie hieß er?

Wie hatte ich auf ihn gewirkt?

Ich versuchte sie zurückzudrängen und mich meiner Aufgabe zu widmen, stellte mich vor, entschuldigte mich für die Lautstärke meines Fauchens und machte klar, dass dies nur dazu gedient hatte, für etwas Ruhe zu sorgen. Genauso wie die Begrüßung des Direktors und sein Zuweisen der Schüler an ihre Plätze, änderte es nichts.

Mein Blick haftete die ganze Zeit auf ihm, während sich die hinteren Stuhlreihen widerwillig füllten. Die Schüler setzten sich und beäugten uns misstrauischen. Die Stille war so laut, dass der Klang eines verkrampftes Furzes umso deutlicher durch den Raum hallte.

„Silas", der Direktor seufzte, „muss das wirklich sein? Gleich am ersten Tag?"

Er sah in die Richtung des Übeltäters.

Silas hieß er also.

Silas.

Es war seltsam, endlich einen Namen zu dem Gesicht zu haben, das mich monatelang in meinen Träumen begleitet hatte. Aber ich fand ihn schön und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie er aus meinem Mund klingen würde.

Silas.

„Du und Boris kommt nach der Besprechung bitte zu mir nach vorne."

„Hä, wieso ich?!"

Das Opfer des Streiches warf in seiner Empörung die Arme in die Luft und schleuderte in derselben Bewegung ein Furzkissen quer über die Reihen. Es prallte, begleitet von einem weiteren Blähgeräusch an der Wand ab und glitt daran zu Boden. Erneut suchte hysterisches Lachen den Saal heim.

„Weil ich keine Lust darauf habe, dass ihr zwei mir wieder das ganze Jahr über Probleme macht."

Silas tauschte einen Blick mit dem Jungen neben ihm. Sie schienen stumm zu vereinbaren, keine Resonanz zu geben, verschränkten unisono ihre Arme und lehnten sich in ihren Stühlen zurück.

Gehorsam war keine Eigenschaft war, die man Silas zusprechen konnte, das wusste ich schon seit wir einander im Wald begegnet waren. Attraktivität und eine beinahe beängstigende Anziehungskraft dagegen schon.


Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt