Kian
Austin war wie immer optimal gestylt. Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass er die letzten Nächte wenig Schlaf bekommen hatte, sah er nicht ansatzweise müde aus. Ich war größer als er und schleppte oft zahlreiche Blicke hinter mir her, doch neben ihm kam sogar ich mir unscheinbar vor. Nun erkannte ich, dass das nie an seinem Aussehen gelegen hatte, sondern an seiner Ausstrahlung. Etwas, das nun fehlte.
"Wir müssen gleich los, Kian."
Ich nickte Charlie zu. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass ich heute nicht in der Schule sein würde. Falls Silas nicht da wäre, würde ich es definitiv bemerken. Ob es ihm bei mir genauso ging, wusste ich nicht. Ich wünschte es mir. Dass ihm mein Fehlen auffiel und er sich nach mir erkundigte. Mir auszumalen, heute Abend nach all den Debatten, Verhandlungen und Gesprächen zum Handy zu greifen und Nachrichten von ihm erhalten zu haben, schürte Vorfreude in mir. Genauso wie unsere Vereinbarung, uns morgen in der Pause bei den Feuertreppen zu treffen, um den Vortrag durchzugehen.
Vor dem Rat oder in anderen Gremien zu sprechen, war kein Problem mehr für mich, doch der Gedanke daran, vor einer Schulklasse zu stehen und nicht zu wissen, wie sie sich verhalten würden, machte mich ungemein nervös. Ich hatte Angst davor, in alte Muster zu verfallen und zu stottern oder noch schlimmer, gar nichts rauszubekommen. Kaum zu glauben, dass ich mal über ein ganzes Volk herrschen sollte, wenn ich nicht mal dazu fähig war.
Charlie blieb vor der Tür zu Austins Gemach stehen und erinnerte mich daran, dass wir in 15 Minuten im Ratssaal sein mussten. Ich tat so als sei mir das bewusst gewesen und begleitete Austin in seine Räume. Sobald ich die Tür hinter uns geschlossen hatte, seufzte er. Augenblicklich fielen seine Schultern nach unten und er sah sich verloren um.
Ich ging einen kleinen Schritt auf ihn zu. Seit Tagen dachte ich darüber nach, wie ich ihm helfen konnte. Ich hatte getan, was ich tun konnte. Und doch fühlte ich mich nutzlos. So als würde ich ihn im Stich lassen. Ich wollte ihm klarmachen, dass ich es ändern würde, wenn ich könnte. Dass er trotz der Distanz immer mein bester Freund bleiben würde. Und, dass alles besser werden würde. Aber, als ich versuchte, durch die Nennung seines Namens seine Aufmerksamkeit zu erlangen, fiel er mir ins Wort.
„Wie sieht es eigentlich mit dem Teppichboden aus, über den wir gesprochen haben?"
„Den bekommst du, sobald ich König bin. Wie abgemacht."
Ich lächelte ihn an, ehrlich amüsiert von der Vorstellung als erste Amtshandlung, Austins Gemach mit einem Teppichboden ausstatten und meinen Thron polstern zu lassen. Das würde sicher Eindruck machen.
Austin erwiderte das Lächeln ehrlich, doch seine Augen blieben feucht.
„Mal sehen, ob ich dann überhaupt noch hier bin."
„Wie meinst du das?"
Er seufzte. „Keine Ahnung... Der Palast ist so riesig, aber ich habe das Gefühl, er hat keinen Platz für mich."
Ich verstand es nicht. Austin liebte das Leben am Hof, er mochte es pompös und übertrieben und voller Luxus und Glamour. Genau das bekam er hier. Ohne ihn, jedoch, war er viel zu kalt, leer und ernst.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, ihn gehen zu lassen. Ich konnte nicht.
„Hier wird immer Platz für dich sein, Austin. Dafür sorge ich."
Für wenige Sekunden hielten wir Blickkontakt. Ich wusste nicht, was in ihm vor sich ging. Ob er noch wütend war, oder traurig oder enttäuscht. Dann umarmte er mich plötzlich, ganz fest, und hauchte ein leises „Danke" an meinen Hals.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...