Kian
Nach meinem Gespräch mit Silas hatten wir in einvernehmlicher Stille durch die Gitter runter auf den Pausenhof gesehen. Es war schwer gewesen, meinen Blick immer wieder von ihm loszureißen. Ich war mir sicher, dass er das bemerkt hatte. Trotzdem hatte es nicht so gewirkt als würde er sich unwohl fühlen. Und ich war froh, dass er keine Angst vor mir hatte, aber die Frage wieso, ging mir dennoch nicht aus dem Kopf.
Es war mir so normal vorgekommen, neben Silas zu sitzen. So leicht. So als gäbe es nichts, das ich falsch machen könnte. Nichts zu verlieren. Umso härter hatte mich die Realität getroffen, als diese wenigen aber wertvollen Minuten vorbei gewesen waren.
Ein Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte mich schon vor einiger Zeit fertiggemacht und grübelte seitdem vor mich hin. In Anbetracht dessen, dass ich in weniger als einer Stunde meine Eltern besuchen und an einer Ratssitzung teilnehmen sollte, eindeutig über die falschen Themen.
„Hey. Charlie meint, ihr müsst dann jetzt los." Austin steckte seinen Kopf durch einen schmalen Spalt der Tür. Er schien sich unser kürzlich vergangenes Gespräch über Privatsphäre tatsächlich zu Herzen genommen zu haben.
„Ich komme gleich."
Seit Charlie mich dafür getadelt hatte, in der Pause verschwunden zu sein, hatte er nicht mehr mit mir geredet. Das war seine Art, mir zu zeigen, dass ich es grandios verbockt hatte.
Ich wusste, dass ich bei ihm zu bleiben hatte. Dass ich vorsichtig sein musste und dass niemand erfahren durfte, dass ich essen konnte. Ich war leichtsinnig gewesen und zu allem Überfluss hatte ich ihm auch noch ins Gesicht gelogen. Niemand außer Silas und mir wusste, dass ich die Pause mit ihm verbracht hatte. Auch, wo ich gewesen war, hatte ich nicht offenbart. Silas hatte gesagt, das sei sein Platz. Wohl sowas wie sein sicherer Ort. Den hatte ich ihm nicht nehmen wollen, indem ich andere davon wissen ließ. Also hatte ich behauptet, ich hätte mich verlaufen und sei eine Weile durch das Schulhaus geirrt. So war ich zumindest zum Teil bei der Wahrheit geblieben.
Charlie kannte mich besser als mir lieb war. Uns war beiden klar, dass ich ihm etwas verheimlichte. Das machte er durch die Distanz, die er aufbaute, deutlich, während ich versuchte unwissend zu spielen.
„Ist alles okay?" Austin musterte mich, während ich auf ihn zuging. Er hielt mich auf, drehte mich um und zog meine Korsettweste kräftig zu.
Ich hasste dieses Teil. Es war eng, unbequem, ich bekam schlecht Luft und jedes Mal, wenn ich es trug, hatte ich Gefühl, niemals der sein zu können, für den es gemacht war – der perfekte Prinz.
Austin drehte mich wieder, überprüfte den Sitz meines Outfits und schaute mich dann auffordernd an, um eine Antwort zu bekommen.
„Ja, alles in Ordnung", seufzte ich und zupfte unzufrieden an mir herum. Es war ein Fehler gewesen, mich vor meinen Terminen beim Schneider zu drücken. Das hatte ich jetzt davon.
Austin strich mit gespielt nachdenklichem Blick meine Haare zurecht. „Bist wohl müde. Wir sollten zukünftig erst später in die Schule gehen."
Ich atmete tief durch und sah ihn genervt an. Nach nur wenigen Sekunden musste ich sein blödes Grinsen erwidern und verdrehte daher die Augen.
„Wenn wir uns eingelebt haben, kannst du später nachkommen. Aber so, dass du noch pünktlich bist, okay?"
„Du bist der beste."
Zufrieden legte er einen Arm um mich und zog mich mit runter.
Es war mir schon immer schwergefallen, Austin gegenüber konsequent zu sein. Er war mein bester Freund. Es gefiel mir nicht, bei jeder Gelegenheit den Prinzen raushängen lassen zu müssen. Mir war klar, dass er sich nicht davor scheute, das hin und wieder auszunutzen. Dennoch bestand unsere Beziehung aus einem gesunden Verhältnis von Geben und Nehmen. Ich erlaubte ihm, später zur Schule zu kommen, er hörte auf, mir die Ohren vollzujammern und alle waren glücklich. Bis auf Charlie. Der war nie glücklich.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...