Kian
Seit Silas gegangen war, lag ich in meinem Bett und trieb in meinen überfüllten Gedanken umher. Wir hatten uns so sehr in unseren Gesprächen verloren, dass wir nicht dazu gekommen waren, uns um den Vortrag zu kümmern. Stattdessen hatte er mir von seiner Kindheit und seinem Vater erzählt.
Ich war mir nun sicher, dass er nichts von seiner Abstammung wusste. Genauso wenig wie Boris und Alica. Für Silas waren die beiden wie Geschwister und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Keiner von ihnen könnte solch ein Geheimnis lange vor dem anderen hüten. Dafür standen sie sich viel zu nahe. Von ihrer Großmutter, allerdings, wollte ich mir ein eigenes Bild machen.
Austin saß neben Charlie auf dem Sofa. Er hatte einen Becher Blut in der Hand und nuckelte geräuschvoll an seinem Strohhalm.
„Könntest du bitte damit aufhören?", bat Charlie ihn genervt.
Austin schlürfte noch lauter, schmatzte genüsslich und fragte mich dann, ob wir es endlich hinter uns bringen konnten.
Nachdem er von seinem Treffen mit Boris zurück gewesen war, hatte ich ihn sofort aufgehalten und ins Wohnzimmer geschickt. Nur wenige Minuten später war Charlie dazu gestoßen. Sie waren mir eine Erklärung schuldig.
„Wenn ihr anfangt zu reden, gerne."
Austin verfiel wieder seiner Nahrungsaufnahme und Charlie verdrehte die Augen. „Ich habe die Beherrschung verloren. Das war schwach. Aber mit Austin kann man einfach nicht normal reden."
„Klar, du bist krankhaft eifersüchtig und ich bin schuld."
„Verdammt, Austin!" Charlie raufte sich die Haare. „Es geht hier nicht um Eifersucht! Ich versuche, dich zu beschützen!"
„Indem du mir beinahe die Kehle rausreißt? Mission erfüllt!"
Lauter als ihre Schreie war die Stille danach. Sie beide starrten auf den Tisch vor ihnen und keiner wagte es, erneut die Stimme zu erheben.
Fassungslos sah ich zwischen ihnen hin und her. „Geht es hier gerade ernsthaft um Boris?"
Austin hatte Boris gern. Sehr gern. So gern, dass er seit Wochen über das Thema „Gefährten" recherchierte. Er war überzeugt davon, dass Boris zu ihm gehörte. Und seine neuen Erkenntnisse, dass auch Verbindungen zwischen Erwachten und Menschen möglich waren – zwar extrem selten und unter höchstem Risiko – widersprachen dem nicht.
Nach einigen langen Minuten seufzte Charlie. „Ich will nur das Beste für dich."
„Boris ist das Beste. Ich werde mir das nicht von dir kaputt machen lassen."
„Ich versuche nicht, dir irgendetwas kaputt zu machen. Ich will dich beschützen. Dich und Boris."
„Warum musst du dich immer in alles einmischen? Kümmere dich doch einfach um deinen Mist."
Charlie nickte, doch von Zustimmung oder Einsicht war darin nichts zu erkennen. „Ich hoffe, irgendwann wirst du verstehen, dass ich das hier nicht getan habe, um dich zu verletzen. Aber du lässt mir keine andere Wahl." Sein Blick richtete sich auf mich. „Ich erhebe hiermit meinen rechtmäßigen Anspruch auf Boris. Er ist mein Gefährte und ich will, dass Austin sich von ihm fernhält."
„Was?! Das kann nicht dein Ernst sein!"
Charlie schenkte Austin keine Beachtung mehr. „Ich habe mit deinem Vater darüber geredet. Er will ihn kennenlernen und die entsprechenden Prüfungen durchführen. Bis wir einen Druiden zur Verfügungen stehen haben, der sich damit auskennt, gilt Boris als mein Gefährte und ist für alle anderen – und somit auch Austin – tabu. Seine Mission, ihn im Auge zu behalten, wird Maddy übernehmen."
Er überreichte mir einen Umschlag, verschlossen mit dem Königssiegel. Ich zog eine Urkunde daraus hervor. Einen Vertrag, zwischen Charlie und meinem Vater, der genau das bestätigte, was er eben erklärt hatte. Nun lag es an mir, dies stellvertretend für meinen Vater durchzusetzen.
„Austin?" Ich legte die Urkunde vor ihm auf den Tisch, damit er sie sich ansehen konnte.
Es war wichtig für ihn zu verstehen, dass dieser Vertrag Charlie alle möglichen Rechte gegenüber Boris einräumte. Er machte ihm quasi zu seinem Eigentum. Vice versa galt das erst, wenn Boris etwas Gleichwertiges für Charlie besaß. Eine weitere unserer zweifelhaften Traditionen.
„Austin?!"
Er blinzelte, schloss die Augen und nickte. Ich wollte ihm klarmachen, dass alles, was Charlie gerade gesagt hatte, seine Richtigkeit hatte. Ihn daran erinnern, was das für ihn bedeutete. Doch er begann zu lachen und die Traurigkeit darin lähmte meine Lippen.
„Spar dir deine Worte. Ich habe verstanden." Dann stand er auf und ging.
Ich hatte so viele Fragen. Ich wollte wissen, woher Charlie wusste, dass Boris sein Gefährte war. Wie man sich dessen so sicher sein konnte, dass man eine Freundschaft zerstörte, um seinen Besitz geltend zu machen. Was Boris von alle dem hielt. Wie es jetzt weiterging.
Andere mussten monatelang auf eine Audienz bei meinem Vater warten und auf die Urkunde noch länger. Auch, dass Charlie sie schon bekommen hatte, bevor ein Druide darüber geurteilt hatte, war die absolute Ausnahme. Niemand wusste, ob es überhaupt zu solch einem Treffen kommen würde.
Charlie konnte sich so gut wie alles erlauben und das wusste er. Bisher hatte er es jedoch nicht für nötig gehalten, das auch jedem anderen klarzumachen.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...