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Kian

Ein Prinz zu sein bedeutet, einem bestimmten Schema zu entsprechen. Bestimmte Rechte anzunehmen, bestimmten Pflichten nachzugehen, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten zu sein, sich einer bestimmten Art zufolge zu benehmen, zu artikulieren und zu kleiden.

Ich hörte mir das schon an, seit ich denken konnte. Genauso lange wusste ich, dass das Ansprüche waren, die ich nicht erfüllen konnte. Und manchmal wollte ich das auch nicht. Manchmal wollte ich die Schultern hängen lassen, Schimpfwörter benutzen, in Jogginghosen rumgammeln und mich mal so richtig gehen lassen. Von mir aus auch in aller Öffentlichkeit. Ich wollte mir aller Blicke und Urteile bewusst sein und dem keine Beachtung schenken können. Dem keinen Platz geben in meinen Gedanken und in meinen Gefühlen.

Charlie wusste oft, was in mir vor sich ging. Was mich belastete. Aber keiner von uns sprach es an. Das war nichts, worüber man redete. Es zu erwähnen hatte zur Folge, sich damit beschäftigen zu müssen. Und das würde zu nichts führen, denn für dieses Problem gab es keine annehmbare Lösung.


Am Freitag in der ersten Pause kapselte ich mich von meinen Freunden ab, um Silas zu den Feuertreppen zu folgen. Charlie ließ mich ungern alleine gehen, aber er wagte es auch nicht, mich aufzuhalten. Seit er Boris am Mittwoch in der Bibliothek so heftig gestoßen hatte, dass Austin ihn ins Krankenzimmer hatte bringen müssen, mied Charlie Körperkontakt noch mehr als sonst. Im Gegensatz dazu war ich total rücksichtslos, entschuldigte ich mich aber für jeden Stoß, den ich austeilte, und einige wichen ohnehin von selbst zur Seite, als sie mich und meine Eile erkannten.

Sich durch die Menge zu drängeln war der einzige Weg, auf einem Schulflur vorranzukommen. Vorsicht und Geduld bedeuteten in diesem ungesitteten Verkehrsaufgebot den Untergang.

An den Lehrertoiletten im dritten Stockwerk führte ein kleiner Flur vorbei in eine Art Abstellraum. Zwischen zwei DVD-Regalen befand sich die Tür, durch die ich am Dienstag gegangen war, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden.

Ich atmete tief durch, während ich meine Hand auf die Klinke legte. Silas ging dorthin, um allein zu sein. Es war sein Rückzugsort. Ich wusste den Wert dieses Platzes zu würdigen und wollte ihm nicht durch einen unnötig lauten und rücksichtslosen Eintritt die Ruhe rauben. Also bemühte ich mich, leise zu sein und schob mich  langsam durch einen kleinen Spalt der Tür.

Mit einem leisen „Hey", machte ich auf mich aufmerksam.

Silas stand an den Gittern und sah runter auf den Pausenhof. Er drehte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck zu mir und erwiderte das Gesagte dann ebenso leise.

„Darf ich dir Gesellschaft leisten?"

„Kannst du denn dafür bezahlen?" Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und die Arme vor der Brust verschränkt.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich holte zwei Packungen Schokoriegel aus meinem Rucksack und bot sie ihm mit gesenktem Haupt dar.

Erst, als sein Lachen erklang, hob ich den Blick wieder. Ich mochte sein Lachen. Ich mochte es wie seine Augen dabei zu strahlen begannen und, dass Grübchen auf seinen Wangen sichtbar wurden. Ich mochte das Gefühl in meinem Bauch, wenn er lachte.

„Du willst mich doch nicht mästen, um den Platz für dich alleine zu haben?"

„Keineswegs. Alleine ist es hier nur halb so schön."

„Mhm." Er kniff die Augen zusammen. Ich sah ihm an, dass er über etwas nachdachte. Daher zog ich fragend die Augenbrauen hoch und bat um eine Antwort, die aus mehr bestand als einem simplen Laut.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt