Kian
Schon am Anfang meiner Zeit bei den Menschen hatte ich begriffen, dass es bei ihnen viel für mich zu entdecken gab. Essen hatte ich bis zu meinem Ausflug mit Silas nicht dazugezählt.
Als wir die Innenstadt betreten hatten, hatte ich Charlie eine Nachricht geschrieben, in der ich behauptet hatte, ich sei zuhaue angekommen. Er konnte nicht wissen, dass ich mit Silas durch die Fußgängerzone schlenderte und mir von ihm ihre kulinarische Vielfalt erläutern ließ und ich glaubte, er würde es auch niemals erfahren. Eine Lüge, die mir zunächst einiges an Stress ersparte, langfristig aber als perfektes Beispiel dafür dienen würde, was mein Vater mir beigebracht hatte.
„Also ich habe total Lust auf Pizza. Wollen wir Pizza holen?"
Meine Antwort bestand aus einem stillen Schulterzucken. In den Mittagspausen besorgten meine Mitschüler öfter Pizza, und meistens roch sie sehr lecker, doch mir selbst eine zu holen war nie in Frage gekommen und die Köche im Palast hatten mir auch nie eine zubereitet.
„Das ist eindeutig ein vor Enthusiasmus kaum zu überbietendes Ja", beschloss Silas. „Also Pizza. Ich will mit vier Käse, Pilzen und Salami. Hast du irgendwelche Wünsche?"
Weiterhin stumm schüttelte ich den Kopf.
„Alles klar. Ich suche mir was für dich aus. Wartest du hier?"
Diesmal nickte ich. Er schaute sich kurz um, deutete auf eine Bank neben dem Eingang des Gebäudes vor uns und meinte, ich solle mich dorthin setzen.
Es liefen einige Leute an uns vorbei, doch kaum jemand beachtete uns. Alle schienen zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein. Oder ich war doch keine ganz so große Attraktion wie bisher angenommen. Wenn mich jemand erkannte, schaute er schnell weg und ging zügig weiter oder lächelte mir vorsichtig aus der Distanz zu. Dass keiner auf mich zukam, erleichterte mich. Mir fehlte die Kraft, den freundlichen, sorglosen Prinzen zu geben, während ich alles andere als sorglos war.
„Ich bin gleich wieder da."
Ich seufzte, nachdem Silas hinter der Tür zur Pizzeria verschwunden war und ließ meinen Rücken an die Lehne der Bank sinken.
Ich sollte mich zusammenreißen und wenigstens versuchen, mich mit ihm zu unterhalten. Immerhin opferte er gerade einen Freitagnachmittag für mich. Aber alles, was ich tun und sagen konnte, kam mir vor wie ein schlechtes Schauspiel.
Dieses Bild, wie Charlie Austin wutentbrannt an die Spinde gedrückt hatte, wollte nicht mehr aus meinem Kopf. Das Quietschen des Metalls der Spinde, als sie unter Charlies Druck nachgaben. Der penetrante Geruch von Angst aus Austins Adern.
Vor allem, als ich noch jünger gewesen war, hatten Austin und ich uns ein Spiel daraus gemacht, Charlie zu provozieren. Wir hatten ihn vor Wut explodieren sehen wollen, weil mir aufgefallen war, dass er tierische Attribute annahm, wenn er gereizt war. Seine Körperbehaarung nahm zu, er bekam klauenartige Krallen und selbst seine Ohren veränderten ihre Form.
Dies genau beobachten zu können, hatten wir nicht geschafft. Er hatte nie die Kontrolle verloren, er war nie handgreiflich geworden und er war stets beherrscht geblieben. Geschrien hatte er, ein einziges Mal. Mehr nicht.
Heute hatte ich kurz gedacht, Charlie würde Austin jeden Moment das schlagende Herz aus der Brust reißen. Keiner konnte wissen, was noch gekommen wäre, hätte ich die beiden nicht bemerkt und getrennt.
Nach wenigen Minuten, die mir absurd lange vorgekommen waren, setzte Silas sich zu mir und machte durch ein übertriebenes Räuspern auf sich aufmerksam.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...