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Silas

Viele meiner Mitschüler verbrachten die Wochenenden für gewöhnlich so, dass sie sich weder daran erinnern konnten, noch bis zur Mitte der Woche ansatzweise nüchtern waren. Ich wusste von einigen Partys, aber obwohl Boris vorhatte, hinzugehen und mich anbettelte, ihn zu begleiten, blieb ich zuhause.

Freitagabend half ich meiner Oma beim Kochen und Samstag arbeitete ich an der Hütte und kümmerte ich mich um Kians Vortrag. Er würde dafür zwar nicht benotet werden, doch ich wollte, dass er nicht nur informieren, sondern auch beeindrucken konnte.

Als ich am Abend damit fertig war, schickte ich ihm die fertige Präsentation und schlug vor, mich nochmal mit ihm zu treffen, um alles gemeinsam durchzugehen. Er bedankte sich und wies mich darauf hin, dass unser Burger-Essen noch ausstand und er sich damit gerne bei mir revanchieren wollte.

Ich grinste wie ein Vollidiot auf mein Handy und überlegte mir, ob ich unseren Chat am Leben erhalten sollte. Ich würde ihn gerne fragen, wie es ihm ging, ihm Ablenkung bieten oder ein offenes Ohr. Sowie er mir. Aber er hatte sicher viel zu tun und ich wollte ihn nicht nerven.

Ich brauchte Zeit, um über all das nachzudenken. Uns. Seine Blicke. Mein Glauben, darin etwas zu sehen, das nicht da sein durfte.Die Tatsache, dass ich nicht dazu im Stande war, seine Gedanken zu hören. Und wie wenig das mich beunruhigte.

Ich musste nicht in seinen Kopf sehen können, um zu wissen, dass er gut war. Dass sein Herz gut war. Dass es ihn antrieb. Und dass es im selben Takt wie meines schlug.

Natürlich konnte mein Urteilsvermögen durch meine Gefühle für ihn getrübt sein. Womöglich war ich naiv und unvorsichtig und ließ mich viel zu leicht auf diese ganze Sache ein. Aber, selbst wenn ich mich irrte. Selbst, wenn er nicht der war, für den ich ihn hielt. Selbst, wenn er mich verletzten würde... Ich hatte nichts zu verlieren. Herzschmerz, Enttäuschung und Trauer waren seit Jahren treue Begleiter meines Lebens. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wer ich ohne sie gewesen war. Und vielleicht fürchtete ich mich auch davor, wer ich ohne sie sein würde.



Am späten Samstagabend, nachdem ich lange gegrübelt und bevor ich Antworten gefunden hatte, stolperte Alica, vollbepackt mit Chips und Wodka, in mein Zimmer und verkündete: „Filmeabend!"

„Habe ich da mitzureden oder belagerst du jetzt einfach ungefragt mein Zimmer?"

„Dein Zimmer und deinen Laptop." Sie kickte die Tür hinter sich zu, stellte alles neben meinem Bett am, kam zum Schreibtisch und entriss mir den Computer.

Nach einer kurzen Überlegung beschloss ich, ihre Anwesenheit über mich ergehen zu lassen und schleppte mich seufzend zu ihr auf das Bett.

„Was schauen wir an?"

Alica hatte bereits einen Streaming-Anbieter geöffnet und durchstöberte ihn nach den neuen Vorschlägen.

„Mhh, Wie wär's mit Küsse im Regen?" Sie klickte auf das Cover des Films, auf dem sich zwei Personen passend zum Titel im Regen küssten. Wie klischeehaft.

„Mhh, wie wär's mit nein?", ich drehte den Laptop zu mir, um durch einen Klick zurück zum Menü zu kommen. „Ich erkläre mich bereit, einen Filmeabend mit dir zu überstehen. Keinen Mädelsabend. Deine Liebesschnulzen kannst du mit Oma schauen."

Alica verdrehte die Augen und rammte mir ihren Ellenbogen in die Seite. Ich zwickte ihr dafür in den Oberarm, wich aber schnell zurück, als sie mich warnend ansah.

Ich hatte ja bereits spielerische Rauferien zwischen Boris und mir erwähnt... Immer, wenn Alica daran teilgenommen hatte, hatte sie uns regelrecht auseinandergenommen. Das war nicht unbedingt zuträglich für das Selbstbewusstsein eines pubertären Jungen.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt