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Silas

Das gesamte Wochenende über schloss Alica sich in ihrem Zimmer ein. Am Montagmorgen, als sie zum Frühstück runterkam, schien es ihr nicht viel besser zu gehen. Boris' übertrieben freundliches „Guten Morgen, Lieblingsschwester" ließ sie genervt die Augen verdrehen. Innerhalb weniger stiller Minuten leere sie ihre Tasse mit frischem Tee, brachte sie in die Küche und machte sich auf den Weg in die Schule.

„Alter!" Sobald die Tür hinter ihr zugefallen war, sah Boris mich aus großen Augen an. „Was ist denn bitte mit der los?"

Ich zuckte mit den Schultern.

„Als ob du dir ihre Gedanken nicht angehört hast! Komm schon, Mann!"

„Schon mal was von Privatsphäre gehört?"

„Scheiß auf Privatsphäre!", behauptete er. „Wir wollen ihr doch nur helfen!"

So einfach, wie er das darstellte, war es für mich nicht. Alica wollte nicht, dass wir wussten, was in ihr vor sich ging. Selbst, wenn ich es schaffte, gezielt nachzuhören, stand es mir nicht zu.

„Ich fühle mich nicht gut dabei."

„Na super. Jetzt darf ich also ihre Launen ertragen, weil du dir zu fein bist. Bei mir hast du doch auch kein Problem damit."

„Ich habe deine Erlaubnis bekommen, das ist was komplett anderes."

„Hey, sie ist meine Zwillingsschwester, also quasi ein Teil von mir. Und ich musste mir auch ungefragt mit ihr eine Gebärmutter teilen."

Ich konnte bloß den Kopf schütteln.


Die Stimmung war am Boden. Boris weigerte sich zu verstehen, warum ich mir die Antworten nicht aus Alicas Kopf stehlen wollte, ich fühlte eine seltsame, namenlose Distanz zwischen uns und Alica wollte wohl am liebsten gar nichts mehr mit irgendwem zu tun haben.

Vor der ersten Stunde ging ich in ihrem Kurs vorbei und stellte ihr kommentarlos die Wasserflasche, die ich für sie eingepackt hatte, auf den Tisch. Sie schaute perplex hoch zu mir.

„Woher wusstest du-"

„So eilig wie du es heute Morgen hattest, war klar, dass du dein Trinken vergessen wirst. Ist ja nicht das erste Mal."

Sie nickte verstehend und murmelte einen Dank. Mein Lächeln erwiderte sie nicht.

Der nächste Punkt auf meiner Liste war Kian. Ein Gespräch mit ihm. Ich hatte mir zwar seine Nummer geholt, um ihn, was die Party anging, auf dem Laufenden zu halten, doch abgesehen von dem Vampirsmiley, den ich ihm geschickt hatte, damit auch er meine Nummer einspeichern konnte, sah unser Chat noch mau aus.

Ich war nicht gut darin, jemanden anzuschreiben. Wie fiel die Begrüßung aus? Hallo? Hi? Hey? Guten Tag? Schrieb man für das Anliegen eine extra Nachricht? Oder machte man einen Absatz? Wartete man auf erstmal auf eine Antwort oder betrieb man erstmal Smalltalk? War es nicht seltsam, erst nach einer Unterhaltung zum Punkt zu kommen?

Ich wollte lieber persönlich mit ihm reden. Das war deutlich unkomplizierter. Spätestens in der dritten Stunde würde ich auf ihn treffen. Bis dahin musste ich durchhalten.

In meinem Wirtschaftskurs saß ich neben Boris. Er unterhielt sich mit Marc und Tina über vier Sitzreihen hinweg und ließ so alle daran teilhaben, dass er mit dem Kiffen aufhören wollte. Mal wieder. Alsbald gingen bei Marc Wetten ein, wie lange Boris es durchziehen würde. Wenn er es bis Ende des Jahres schaffte, bekam er das ganze Geld.

Sogar Frau Ferbe beteiligte sich. „Ich wünsche Ihnen ganz viel Erfolg, Boris."

Es klang nicht so, als würde sie davon ausgehen, dass er es diesmal schaffte. Kein Wunder. Frau Ferbe war die Art von Lehrerin, mit der man die Pausen auf der gegenüberliegenden Straßenseite verbrachte, um einen durchzuziehen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie die Quelle des ganzen Grases wäre, das unter den Jugendlichen dieser Stadt umherwanderte. Obwohl ich mir sicher war, dass sich das mit ihrem Berufsethos widersprechen musste, machte sie das ziemlich cool. Ich konnte nachvollziehen, warum Boris schon seit Jahren für sie schwärmte.

Erwacht - BlutlustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt