Silas
Bis Kian und ich uns treffen konnten, vergingen Wochen. Die Ferien waren schneller vorbei als mir lieb war und die darauffolgende Klausurenphase spannte mich komplett ein.
Wir sahen uns selten. Er war, vor allem nachmittags, kaum in der Schule und wenn doch, dann starrte er zerstreut an eine Stelle und saß seine Zeit ab. In unseren gemeinsamen Pausen schien er wie ausgewechselt. So lebhaft und aufgeschlossen. In diesen Momenten erinnerte er mich an eine Blume. Eine Blume, deren Umgebung entschied, ob sie einging oder aufblühte.
Seinen Vortrag übernahm Anna. Viele unserer Mitschüler glaubten, er hätte keine Lust gehabt, sich die Arbeit selbst zu machen und könne es sich nun mal erlauben, sie auf jemand anderen abzuwälzen. Es nervte mich. Ihr Bedürfnis, sich ständig über jede Kleinigkeit zu äußern und so hartnäckig nachzubohren, bis sie was fanden, über das sie ungefragt urteilen konnten.
Einige von ihnen zogen darüber her, dass Kian sich noch nicht mit einem Mädchen gezeigt hatte. Sie glaubten, er lehnte all die Angebote, die er bekam, ab, weil er sich für etwas Besseres hielt, und nur geheime Affären mit anderen Adligen führte.
Er hatte mir einen Brief gezeigt, den ihm jemand in den Spind gelegt hatte. Einen Liebesbrief. Von Dana aus der Neunten. Mit Herzchen und kalligraphischem Romantikgesülze.
Kian hatte keine Ahnung gehabt, wie er damit umgehen sollte. Seine Frage, ob das womöglich nur ein Scherz gewesen sei und er es ignorieren solle, klang absurd hoffnungsvoll.
„So viele Sticker und Glitzer wie sie dafür genommen hat, glaube ich kaum, dass das ein Scherz ist. Sie hat sich richtig Mühe gegeben."
Er richtete seinen Blick zurück auf das Papier in seiner an. Ich war mir sicher, dass er nicht bemerkte, wie er dabei sein Gesicht verzog. Er hätte seine Ablehnung niemals so offensichtlich verdeutlich.
„Das Gedicht ist schön."
„Das Gedicht ist eklig, kindisch und oberflächlich."
Wieder sah er mich an. „Du bist wohl nicht so der Romantiker?"
„Absolut nicht", schnaubte ich. „Ich verstehe nicht mal, wie es überhaupt zu diesem Brief kam. Hast du jemals mit ihr gesprochen?"
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wer sie ist."
Natürlich. Wenn Dana in Kian verliebt war, war es nachvollziehbar, süß und vor allem akzeptabel. Bei mir lächerlich und skandalös. Dass sie Kian nicht mal kannte, setzte alle dem die Krone auf. Ein paar geläufige Fakten über ihn zu wissen und ihn bei jeder Gelegenheit anzustarren gab ihr nicht das Recht, ihn emotional zu überfordern. Wenn einer das durfte, dann ich. Denn ich kannte ihn. Seiten von ihm, die sie niemals kennenlernen würde. Ängste, die sie nie sehen würde. Und Worte, die sie nie hören würde.
Ich atmete tief durch, um gegen die Verbitterung in meinem Kopf anzukämpfen. Ich wollte Kian damit beratschlagen, was am besten für ihn war und nicht damit, was ich mir wünschte.
„Also entweder du ignorierst es oder du erteilst ihr persönlich eine nett verpackte Abfuhr."
Ich fragte ihn nicht mal, ob er ihr denn ‚eine Abfuhr erteilen' wollte. Alles andere kam nicht in Frage.
„Wahrscheinlich sollte ich meinen Mann stehen und das von Angesicht zu Angesicht klären. Aber ich will ihr nicht wehtun. Was ist, wenn sie zu weinen anfängt? Was mache ich dann?"
„Du kannst sie schlecht aus Mitleid daten, Kian."
Ich weigerte mich zu verstehen, wieso er sie nicht einfach abweisen konnte. Hingehen, sagen, dass er kein Interesse hatte und die Sache war geregelt. Nur wäre es nicht Kian, fiele ihm das so leicht. Und deshalb mochte ich ihn ja auch. Er war sich dessen bewusst, dass seine Taten etwas bewirkten. Dass sie eine Bedeutung hatten. Und er ging gewissenhaft mit dieser Verantwortung um.
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Erwacht - Blutlust
ParanormalNach Jahrhunderten des Krieges soll nun endlich Frieden herrschen. Als Prinz macht Kian es sich zur Aufgabe, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sein Volk und die Menschen gewaltlos zusammenleben. Zu seiner Unerfahrenheit und den hartnäc...