XIX

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Und so lief ich bloß zwei Stunden später frisch geduscht und umgezogen – zum Glück hatte ich Wechselklamotten in meinem Arbeitsspind – zur U-Bahn-Haltestelle. Ich war froh, dass mich niemand nach meiner Schicht abgefangen hatte und ich etwas Zeit für mich hatte. Fast schon hatte ich angenommen, dass Lijah meine Mitbewohnerinnen ausgequetscht hatte, um meinen Aufenthaltsort herauszufinden und mich noch am Krankenhaus in einen schwarzen Van zu werfen, der mich dann zu einem Raum im Keller der Bikerbar brachte, wo ich eingesperrt werden würde. Aber nichts Dergleichen war geschehen und so konnte ich mich völlig entspannt auf die befleckten Polster der U-Bahn gleiten lassen und mich meinen Gedanken hingeben. Wäre alles etwas anders, hätte ich wohl das Weite gesucht. Ich hätte diese Stadt, meine Mitbewohner und meine Arbeit einfach hinter mir gelassen und irgendwo neu angefangen, wo mich niemand kannte. Und vor allem dort, wo kein Bruder auf mich wartete und mir Fragen stellte. Leise seufzte ich auf. Damals hatte ich Lijah wirklich geliebt. Von meiner gesamten Familie hatte er mir am nächsten gestanden. Er war nicht nur mein Bruder sondern auch mein bester Freund gewesen – bis zu diesem einen Tag. Dem Tag, an dem er mich zurückgelassen und sich nie wieder nach mir umgedreht hatte. Wie konnte er sich also jetzt das Recht herausnehmen, wieder mein Bruder – wieder meine Familie – sein zu wollen? Wie? Forsch wischte ich mit meinem Unterarm die Träne von meiner Wange, die sich aus meinen Augenwinkeln gestohlen hatte. Nein! Ich hatte eindeutig andere Probleme, als dass Lijah auch eines davon werden konnte. Er sollte sich von mir fern halten – aber das war nur Wunschdenken und das wusste ich. Wahrscheinlich wartete er gerade in meinem Zimmer auf mich oder zumindest in meiner Wohnung. Immerhin waren dort drei willige Weiber, die ihm nur zu gerne die Zeit versüßten. Egal wie eingeschüchtert sie die gestrige Nacht auch gewesen sein mussten. Zum Glück für sie - und für mich – war ich gar nicht auf dem Weg zurück zu unserer Wohnung.

Seufzend verstärkte ich den Griff um meine Tasche, in der ich die Tabletten versteckt hatte. Natürlich fühlte ich mich schuldig dafür, meinen Arbeitgeber zu bestehlen, aber leider gab es keine andere Möglichkeit für mich, an die verschreibungspflichtigen Medikamente zu kommen. Und ich brauchte sie... Erstmal zumindest. Mit diesem Gedanken erhob ich mich und verließ die U-Bahn an meiner Haltestelle. Kalte Luft schlug mir entgegen, während ich hinaus auf den versifften Bahnhof trat. Ich war mir der Augen bewusst, die auf mir lagen. Die Menschen, die in der Bahn blieben, hatten Mitleid, Sorge oder auch Neugier auf ihren Gesichtern, denn immerhin war das hier keine Gegend für jemanden wie mich. Eine Frau. Allein. Zumindest war ich dieses Mal im Tageslicht hier, auch wenn das die dunklen Gestalten in den Gassen zwischen den Häuserblöcken kaum weniger angsteinflößend machte. Ich hasste es hier. Die Luft stank immer etwas verbrannt und verdorben und die Menschen beobachteten jeden Schritt vollkommen kalkuliert. Dieses Viertel war bekannt für seine Kriminalität und Ruchlosigkeit. Während jeder in der Nähe der kriminellsten Gang – der Black Tiger – genau wusste, worauf er sich einließ, war es hier vollkommen anders. Hier konnte alles passieren, weil die Kleinkriminellen und Einzelgänger die Häuserblöcke bewohnten. Sie arbeiteten teilweise für die Black Tiger oder gingen ihnen einfach nur aus dem Weg, soweit es ihnen möglich war. Denn das war kein Ort, an dem sich die Biker gerne aufhielten. Und das war sein einziger Pluspunkt. Mit wachen Augen schritt ich über den Bahnhof nach draußen auf die offene Straße, ehe ich nach links abbog, um zu meinem Ziel zu gelangen. Ich ignorierte die Blicke, die mir zugeworfen worden und auf das Pfeifen einer Gruppe Jugendlicher, die sich gerade eine Flasche Tequila teilten. Einer von ihnen hatte ein Mädchen auf dem Schoss, während ein anderer hinter ihr stand und an ihrem Nacken saugte. Von hier aus konnte ich nicht erkennen, ob sie das wirklich wollte, aber selbst wenn nicht, konnte ich nichts tun. Nicht einmal die Polizei würde hier heraus kommen... Und so ging ich zielstrebig weiter, bis ich an einem der Häuserblöcke stehen blieb. Seufzend stellte ich fest, dass die breite Eingangstür wieder einmal aus den Angel gerissen worden war. Sie lag am Boden und das Glas, das sie geziert hatte, lag in feinen Splittern um sie herum verstreut. Egal wie oft sie erneuert wurde, nie hielt sie lange. Für mich war es ein Rätsel, wieso die Hausverwaltung sich überhaupt noch die Mühe gab, sie zu ersetzen.

„Huhu Sky." Kaum dass ich in das Gebäude getreten war, riss mich eine bekannte Stimme aus meinen Gedanken und zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Derek war ein Mann, der die sechzig leicht überschritten hatte. Er war obdachlos und lebte unter den Treppen in den Wohnkomplexen. Obwohl das Leben ihm übel mitgespielt hatte, war er immer gut drauf und hatte schon den ein oder anderen Kerl von mir gejagt. Meistens, indem er ihn mit seinen leeren Alkoholflaschen beworfen hatte – wohl auch der Grund, warum Derek immer gute Laune hatte

„Hey, Der", begrüßte ich den alten Mann. „Alles gut?"

„Wenn ich dein hübsches Gesicht sehe, dann doch immer." Grinsend legte ich meinen Kopf schief, während ich beobachtete, wie Derek es sich auf seiner Decke bequemer machte. Er lehnte an der kalten Steinwand und trank aus einer billigen Weinflasche.

„Du bist ein alter Charmeur, mein Lieber." Derek nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, als sein Blick auf meine Tasche fiel, die ich immer noch fest umklammert hielt. Seufzend schüttelte ich den Kopf. „Sorry, heute habe ich leider nichts für dich dabei. Ich bin eher ... unvorbereitet hier." Derek Grinsen verblasste. 

„Was ist geschehen, Sky?" Schnell machte ich eine abfällige Handbewegung, ehe ich die ersten Stufen des Treppenhauses nach oben stieg.

„Nichts, was ich nicht regeln könnte, Der. Du kennst mich doch." Darauf erwiderte der Obdachlose nichts, aber ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, während ich die Treppen hinauf stieg. Der Geruch wurde mit jeder Stufe schlimmer. Alkohol, Tabak, Urin und Drogen waren eine abscheuliche Mischung und mit Sicherheit nicht alles, was in der Luft lag. Das Treppenhaus war versifft und wohl noch nie gereinigt worden. Ohne meine Umgebung präzise mustern zu müssen, sah ich die Spritzen in den Ecken der Stufen und die benutzten Kondome. Angewidert verzog ich das Gesicht. Egal wie oft ich hier war, meinen Ekel konnte ich nicht abstellen. Wieso musste er auch hier wohnen? Ich hatte ihm schon so oft angeboten, dass ich mir einen zweiten Job suchen und wir zusammen eine kleine Wohnung in einer besseren Gegend nehmen konnten. 

Aber das wollte er nicht. 

Mich wollte er nicht. 

Und das konnte ich nur zu gut verstehen. 

Tief atmete ich ein und klopfte an die dunkle Holztür, die sich im siebten Stock befand. Das gesamte Gebäude hatte über zwanzig Stockwerke, aber ich hatte nie vor die Spitze zu erklimmen. Und den Fahrstuhl würde ich niemals betreten – nicht einmal, wenn er funktionieren würde.

„WAS?!", schrie eine dunkle Stimme hinter der Tür. 

Er war betrunken. 

Oder High. 

Oder beides... 

Natürlich.

„Ich bins." Ich hörte ein Fluchen, ehe etwas zersplitterte. Dann war Ruhe, bis sich die Tür langsam öffnete. Ein junger Mann stand vor mir, dessen blauen Augen so groß waren, dass er sich wohl mehr als eine Pille eingeworfen hatte. Seine schwarzen Locken standen in alle Richtungen ab und waren meiner Meinung nach mittlerweile auch viel zu lang. Er war blass und tiefe Augenringe hatten sich in sein einst so hübsches Gesicht geschlichen. Es ging ihm schlecht. Und das war meine Schuld. 

Ganz allein meine.

„Sky." Keinerlei Emotion lag in der Stimme des jungen Mannes, als er sich auch schon umdrehte und zurück in seine Wohnung lief. Allein die Tatsache, dass er die Tür nicht wieder zugeschlagen hatte, verriet mir, dass ich wohl doch willkommen war.

„Hi Jared", flüsterte ich, ehe auch ich die Wohnung betrat und sorgsam die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ.

Skylar - Sei meinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt