Kapitel 9. Altes Leben, neues Glück

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Ihrer Schätzung nach ließ er sie drei oder vier Tage lang hungern, bis er wiederkam. Es machte ihr nichts aus; sie mochte schon Wochen, vielleicht Monate hier sein und hatte nur das Knochenmark zu sich genommen. Und überlebt. Ihr Körper hielt sich als winziges Feuer am Leben und brauchte nicht viel Energie, um sich zu versorgen.

Der Durst hingegen war ein Problem. Sie löste es, indem sie wie eine Echse an der Wand emporkroch, soweit der Strick, das Bein und die Schwäche es zuließen, und die Feuchtigkeit vom groben Gestein schleckte. Den Rest der Zeit über schlief sie.

Diese Tage waren keine weltliche Phase für sie, nein, bis auf ihren Durst waren sie eine Reise aus Gedanken. So viele Erscheinungen kamen darin vor. Ihre Burg, die graue Festung und der Markt, dessen buntes Treiben man von oben beobachten konnte und manchmal auch von der Nähe, wenn ihr Vater sie ließ. Barden, die in Hoffnung auf ein paar Taler in aller Freude ihre Musik zum Besten gaben. Metzger, Bäcker, Weber, Gerber und Landwirte, die ihr Äpfel und Rosinen in die Hand drückten, obwohl sie als Tochter des Fürsten von Wachen umringt war.

Der Blick aus den Erkern auf Felder, so weit das Auge reichte. Hektik im Frühling und Spätsommer, wenn gesät und geerntet wurde. Ausgestorben im Winter, leergefegt durch stürmische Böen, die an den Bäumen zerrten. Aber auch faule Knechte, die an sonnigen Tagen in der Wiese lagen und Halme kauten.

Turid dachte an ihre Geschwister. Vor allem an die älteren Schwestern, die sie nach und nach durch Hochzeiten verlor und die jüngere, Adelheid, ein liebes Kind. Ihre kleinen Brüder, die sich im Schatten der efeuverzierten Gemäuer des Innenhofs balgten. Ihre zwei älteren Brüder, die bereits als Knappen aufs Feld liefen, bevor sie selbst geboren war.

Turid war die dritte Tochter der neuen Fürstin gewesen, nachdem die erste Frau ihres Vaters am Fieber gestorben war. Sie hatte Respekt vor ihrer Mutter gehabt. Blutjung bei ihrer ersten Schwangerschaft, der viele weitere folgten, dennoch quoll sie nicht so auf wie viele der Frauen in Gremholdshand. Egal ob Magd, Bäuerin, Handelsfrau oder Adelige – das Leben ihres Geschlechts war immer dasselbe. Blühend und hübsch, dann schwanger und wieder und wieder und wieder. Waren sie alt, sah man den Kreislauf des Gebärens und Verlierens ihrer Kinder in den tiefen Furchen ihrer Gesichter.

Als kleines Mädchen hatte sie dieses Schicksal nie teilen wollen; dazu waren ihr die Schreie aus der Kammer ihrer Mutter, wenn es wieder so weit war, zu laut gewesen. Aber irgendwann hatten ihre Zofen ein ernstes Wort mit ihr gesprochen, dass sie den Zorn des Herrn auf sich zöge, wenn sie so redete. Und Turid versuchte, das zu akzeptieren, denn wenn Gott wollte, dass sie heiratete, dann würde sie auch heiraten.

Ab und zu hatte sie deswegen nachts geweint. Sie wollte nicht so werden wie die Waschweiber am Flusslauf mit den krummen Hüften und gewaltigen Busen, die ihnen schlaff an der Brust herunterbaumelten. Sie hatte Geschichten gehört, Schauergeschichten, dass eine Frau nach einigen Geburten nicht mehr selbst kontrollieren konnte, wann sie sich erleichterte, dass sie verbraucht und weit wurde und der Mann sich neue, schönere junge Dinger suchte, weil sie ihm keinen Spaß mehr machte. Einige Male hatte Turid mit dem Gedanken gespielt, fortzulaufen, aber ihre älteren Schwestern hielten sie zurück. Alle drei liebten ihre Männer, die sie zu fernen Gütern gebracht hatten und sie dort gefangen hielten. Ein Gefängnis. Anders hatte Turid die Ehe nicht bezeichnen können. Übelkeit stieg in ihr hoch, wenn sie daran dachte, dass das ihr Leben beim Eroberer hätte sein können.

Wie fern das alles jetzt lag. Und wenn sie hier unten ihr Ende fand, würde ihr zumindest diese Sorge ihres alten Lebens erspart bleiben.

Sie sah ihren Vater, wie er unter dem Tor hervorspazierte, die Brust hoch erhoben und in ein feierliches Kostüm gekleidet. Es war zu irgendeinem Jahrestag gewesen. Oder die Geburt eines Enkels, vielleicht.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt