Kapitel 1. Hinrichtung

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Der Stein traf sie am Kopf. Eine Sekunde lang versank ihre Welt in Stille. Dann sah sie schwarzen Schlamm auf sich zurasen, ihre gefesselten Hände zuckten hilflos nach vorn, sie konnten ihr keinen Schutz vor dem Fall bieten. Im nächsten Moment presste der harte Aufprall auch schon ihre Lungen zusammen, sie keuchte, strampelte, wand sich, schnappte lautlos nach Luft wie ein Fisch auf der kalten Planke seines trockenen Grabes. Füße trampelten über sie hinweg, traten sie, ihre Besitzer versessen darauf, sie zu zerquetschen.

Der Schmerz kam zur gleichen Zeit zurück wie der Ton. Ein Druck auf ihrem Brustkorb, durch den sie meinte, jeden Moment ersticken zu müssen. Das Gebrüll der Menge so laut, dass es ihre Ohren klingeln ließ. Ein Pochen, als schlüge ihr ein Hufschmied mit seinem Hammer auf den Hinterkopf. Das Wiehern durchgehender Pferde. Ihre Handgelenke, aufgescheuert durch die rohen Seile. Die Fanfaren. Und ihre eigenen Schreie.

Es war nicht so, dass sie nicht hätte still sein wollen. Alles zu ertragen, was mit ihr geschehen sollte, die Demütigung, den Hunger, die Folter. Und den Tod. Sie hatte sich vorgestellt, stolz den Kopf oben zu halten und ihre Untertanen mit Schuld zu strafen, weil sie sie verraten hatten. Aber es glomm nicht Verachtung in ihren Augen, sondern nackte Angst. Und sie schrie. Wie sie schrie! Gellend, aber keiner hörte sie. Das Getöse über ihr verschlang alles. Trotzdem hörte sie erst auf damit, als der letzte Hauch aus ihren Lungen entwichen war.

Jetzt konnte sie sogar Worte ausmachen. „Hure", keiften sie, „Hexe", „Dreckstück", und viel mehr. Eine Frau mit weißem Haar und Furchen im Gesicht warf wieder mit Steinen nach ihr, die sogleich von einer Bande Halbstarker in Lumpen aufgelesen wurden und erneut auf sie niederprasselten. Mütter spuckten auf ihre sich am Boden windende Gestalt, Männer drohten mit den Fäusten. Nur die Mutigsten wagten sich aus den Reihen hervor, um zuzutreten. Sie sah bereits eine Ledersohle auf ihr Gesicht niedersausen, als ein Soldat sie am Arm packte und grob auf die Beine zerrte.

Ich darf nicht hier sterben, schoss es ihr durch den Kopf. Nein, sie wusste, wo sie sterben musste. Durfte. Sie konnte die zackigen Felsen bereits erkennen, trotz ihrer zugeschwollenen Augen. Steil ragten sie vor dem Gewitterhimmel hervor, die Spitzen umschlungen von nebligen Schlieren, ein schmutziges Grau in schmutzigem Weiß. Irgendwo dort unten musste das Loch sein, der Schlund, wie man ihn im Volksmund getauft hatte, abgeschirmt durch die steilen Schluchten. Versteckt hinter dem Richterfelsen. Starke Männer warteten bereits am Fuße der Felswand, vor dem Eingang des schmalen Spalts, der vom Richterfelsen versperrt wurde: Sie waren jederzeit bereit, ihn zur Seite zu wuchten. Damit sie den Schlund hinunterfliegen konnte.

Das war ihre Strafe. Tod. Ihr Vollstrecker? Nicht der Schlund. Das schwarze Loch im Boden war nur das Mittel zum Zweck – jeder wusste, dass man nicht starb, wenn man dort hinuntergestoßen wurde. Man konnte die Schreie der Verurteilten nämlich hören, lange nachdem sie unten angekommen waren, zwar nur ein leises ahhh, aber es war da. Stets verstummte es abrupt.

Niemand wusste, was sich die armen Seelen dort unten holte. Aber es lebte.

Alte Weiber liebten es, ihre Schauergeschichten vom Werwolf zu erzählen, Kinder fanden die Vorstellung eines Drachens ungemein spannend. Als sie selbst noch ein Kind gewesen war, hatte sie einmal ihren Vater gefragt: „Was ist dort unten?"

„Drachen gibt es nicht mehr", hatte der Vater gesagt „und ein Werwolf lebt niemals allein."

„Und was ist es dann?", hatte sie wissen wollen.

„Ein Bär", erklärte ihr jüngster Bruder, der für sie der schlauste Mensch der Welt gewesen war. Jetzt gab es ihn nicht mehr. „Bären leben in Höhlen. Stimmt's?" Er blickte zum Vater, aber der brummte nur. Auch von ihm war heute nur noch ein Kopf auf einem Spieß übrig.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt