Kapitel 75. Der Gedanke

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Turid floh. Ihre Schritte waren fast lautlos auf dem feuchten Sand und später, als sie die Felsen erreichte, erstickten ihre Schuhsohlen das Echo. Aber sie wollte nicht mehr Hals über Kopf in ihr Verderben springen wie vorhin. Da hatte der Albtraum in ihrem Kopf ein Gewitter entfacht, jetzt legte sich eine eigenartig zufriedenstellende Erleuchtung wie eine Decke auf ihre Gedanken. Vom schäumenden Wasser nahm sie keine Notiz, sie ließ es hinter sich.

Ein Rascheln, etwas auf ihrem Weg erschrak und rettete sich mit kleinen trippelnden Füßen in die Böschung. Der Gedanke an das Tier entfachte Hunger in ihr, ihr Magen zog sich zusammen, und als merkte er, wie er fühlen konnte, begann er im selben Moment zu stechen. Zeit, aufzuhören, sagte sie sich. Tapp – tapp – tapp... ihr Körper verlor seine Spannung. Schließlich trabte sie locker an der Höhlenwand entlang, taumelte wieder und wieder. Wenn es nur nicht so guttäte, die Knie ächzen zu hören und die Röte auf den Wangen zu spüren wie früher.

Dann stand sie und atmete, ein, aus, tiefe Züge, zwischen denen ihr Herz den ganzen Brustkorb zum Beben brachte. Neben ihr türmten sich zerklüftete Felsen zu Höhen auf, die ihre tastenden Finger niemals erreichen konnten.

Turid sah zurück. Beowulf musste weit fort sein, doch – halt – sie konnte ihn hören: Ein gequältes Keuchen mischte sich unter das knisternde Schilf; es war, als wohnte dort bei den Käfern und Würmern und Fröschen ein weiteres Tier, das seine Lebensgeister kundtat. Dabei war es umgekehrt. „Verzeih, verzeih", sagte sie leise. Er musste sich krümmen vor Schmerz, vielleicht wünschte er sich, zu sterben, und es tat ihr im Herzen weh. Zumal sie wusste, dass dies nicht alles war.

Armer Beowulf. Von dem Schlag in die Magengrube würde er sich erholen. Von dem Glauben, sie würde sich umbringen, nicht.

„Du solltest wirklich zurückkehren", mahnte sie sich. Bestimmt hasste er sich dafür, nicht aufstehen zu können, um sie an der Tat zu hindern. Ihre Beine blieben regungslos.

Beowulf würde sich vergeblich quälen. Denn die Wahrheit war: Turid hatte keine Lust mehr auf ein blutiges Ende. Was sie sich stattdessen vorgenommen hatte, war nicht weniger verzweifelt, doch es hatte nichts mit dem Sterben zu tun.

Ja, das kalte Metall hatte sich gut angefühlt in ihrer Hand und sie hatte es schon durch ihre Halsschlagader schneiden gefühlt, sowie sie zum ersten Mal erwachte. Nichts war ihr, einem zitternden, schweißgebadeten Bündel, tröstlicher vorgekommen als endgültige Leere. Allemal besser als noch ein Albtraum, und was sie zu Beowulf gesagt hatte, daran hielt sie fest: Sie wollte nicht mehr schlafen, nicht mehr erleben, was dann mit ihr geschah, nie, nie wieder. Wenn doch, würde ihr Geist jeden Moment in sich zusammenfallen; Turid wusste, was das hieß, sie hatte solche Menschen gesehen, die innerlich tot waren.

Und dennoch...

Sie erschauderte bis in die Fingerspitzen. Auf einmal stach ihr Oberschenkelknochen wie frisch zertrümmert, er schrie die Überbelastung heraus. Die Fingerstummel an der rechten Hand zuckten, als wollten sie Turid daran erinnern: Wir waren einmal ganz. Sie schaute auf die Finsternis hinunter, die den Arm verhüllte, und lächelte schwach, nicht wie jemand, der gerade schrecklich mit sich ringt, sondern wie jemand, dem es ganz und gar gut geht.

Ja, meinte sie, hätte ich früher je daran gedacht, mir den Garaus zu machen, dann wäre diese Hand mein Henker gewesen. Jetzt ist sie verkrüppelt und die Linke macht alles genauso gut. Wie sich doch in der Höhle alles einspielt.

Die Welt lief weiter, hier unten.

Und niemand sah zu.

Womit sie zu dem Gedanken kam, der, als sie mit hämmerndem Herzen im Schilf stand, auf sie gesprungen war wie ein Raubtier, und zwar mitten ins Gesicht. Der Beowulf, der ihn missverstanden hatte, zum Schweigen gebracht hatte und sie, die ihn klar vor Augen hatte, ebenfalls.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt