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Turid zögerte nicht, als sich der Schall der öffnenden Wölbung über ihren Haaren kräuselte und klar war, dass ihr Fuß im nächsten Moment keinen Boden mehr unter der Sohle haben würde. Beim Aufprall unterhalb der Ebene knackten drohend ihre Knochen. Einen Schmerzenslaut erlaubte sie sich, bevor sie sich auf die Beine zog und dabei die gezackten Spuren ihrer Fingernägel auf dem Felsen zurückließ.
Einen Moment lang fürchtete sie, die Welt habe sich auch in ihrem verhassten Zuhause auf den Kopf gestellt – Hadubrand, ein Steinschlag oder göttliche Verwüstung. Aber das Trümmerfeld lag starr im Dunkeln wie ein gefrorener See.
Ihre tastenden Hände fanden die Wolldecke auf Anhieb. In ihrem Rausch hatte Turid sie vor die Steinplatte geworfen, als hätte sie tausend Dinge einzusammeln gehabt, im Begriff, ihre kratzige treue Begleiterin mit auf die Reise zu nehmen – und sie nie wieder aufgenommen. Auch das, dachte sie, wäre hier von mir übrig geblieben.
Kurz dachte sie an die Kleiderbündel, dann schüttelte sie den Kopf. Zu schwer und keine Zeit, alles Nützliche auszusortieren.
Etwas berührte ihr Knie. Flüchtig streifte sie die Zacke des Felsens, der sich nun an ihr Bein zu schmiegen schien wie ein Hund. Ansonsten sah sie nicht zurück. Viel zu mächtig ragte die Ebene vor ihr auf, spöttisch sogar, weil der kleine Mensch am Boden kaum eine Minute zuvor gar so schnell heruntergerutscht war und sich nun anschickte, gegen die Schwerkraft zu kämpfen.
Mit so viel Schwung, wie ihr zerstörtes Bein es zuließ, nahm Turid Anlauf und sprang den schrägen Felsen hinauf. Die rechte, verkrüppelte Hand konnte keine Unebenheit ergreifen, wohl aber die linke: Mit mehr Kraft, als sie es ihnen zugetraut hatte, klammerten sich die Finger an den Vorsprung. Turids Unterarm fing an zu brennen, sowie sie die Muskeln anspannte.
Sie keuchte schmerzlich unter dem Feuer in ihren Rippen. Da stieß ihre freie Hand auf etwas, das nachgab, doch die Fliehkraft riss den Arm davon fort. Für einige Sekunden baumelte die Hand in der Finsternis herum, dann bekam sie es wieder zu fassen.
Es war ein zäher Fleischfetzen, einbalsamiert in Staub und Kiesel, sodass er ihr schier wieder entglitt. Ein Teil von ihr hoffte auf genau das; federleicht lag das Gewicht in ihrer Handfläche. Turid zögerte noch, eher sie ihn in der Ausbuchtung ihres Hosenbundes verstaute. Dann sogar stemmte sie die Füße gegen eine Zacke und griff, sobald sie sicheren Halt hatte, wieder ins Leere. Noch ein Fleischstreifen gesellte sich zum andern. Und noch ein weiterer. Der vierte schlitterte an ihren Fingern vorbei in die Tiefe.
Später wusste sie nicht mehr, wie es ihr gelungen war, sich unter der Last ihrer Fundstücke und ihren alten wie neuen Knochenbrüchen über die Kante zu schieben. Aber sie lag oben und es war noch nicht zu Ende.
Warum tust du das?, fragte sie sich, als sie bäuchlings vornübergebeugt noch einmal nach unten tastete und wertvolle Zeit opferte, um den Rest vom Eroberer vom Felsen zu klauben. Allein der schwache Geruch nach ranzigem Fett schrie danach, das Fleisch zurückzulassen und für immer zu vergessen. Doch wenn Turid eines gelernt hatte, dann war es, dass es in der Finsternis keine Gnade gab – erst recht nicht in ihrem dunkelsten Loch, dort, wo sie bald sein würden.
Sie trabte keuchend den Gang hinauf und schlüpfte geschickt durch den Spalt.
„Also hör zu", sagte Turid mit glühenden Wangen. Das Fleisch hatte sie in die Decke geschlagen und wie einen Sack über die Schulter gelegt; das Bündel fiel nun dumpf zu Boden. Beowulf antwortete ihr nicht.
„Verdammt!"
Sie rüttelte an seinen Beinen – nichts. Er atmete ruhig. Schlag für Schlag seines Herzens wartete sie, obwohl ihr das eigene noch bis in die Kehle hinaufklopfte, als sie längst nicht mehr außer Atem war. Immerhin konnte Hadubrand ungeduldig werden, jederzeit, auch wenn Beowulf das abstritt. Sie würde das Tier nicht einmal hören, wenn es in diesem Moment hinter ihr stand.
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Turid und die Finsternis
FantastikDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...