Kapitel 57. Der Untote

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Es war Turids Herz, das zuerst aussetzte, nicht seines. Während sie der zerfetzten Brust zuhörte – Herzklopfen wie das Japsen eines Ertrinkenden – wurde ihr Sekunde um Sekunde deutlicher bewusst, dass ihr Körper nichts tat – gar nichts. Als Beowulf endlich ihrem Vorbild folgte, schwiegen sie beide gemeinsam. Wie ein Knacks in der Zeit, dachte sie.

Poch-poch, meldete sich plötzlich Fleisch und Blut unter ihren schmerzenden Rippen. Nicht so bei ihm. „Beowulf?", fragte sie.

Die Antwort war stumm, aber fest und schien endgültig – wie ein Wort, mit schwarzer Tinte geschrieben auf vergilbtem Pergament. Aber keine Silbe und kein Laut. Ein Satzzeichen vielleicht. Ein Punkt.

Turid blinzelte.

Die Finsternis blinzelte zurück.

Als sie sich hinunterbeugte, lebte er wieder. „Du Schweinehund schuldest mir eine Erklärung", schimpfte sie leise. Aber sie traute sich nicht, in zu schütteln. Knapp musste es gewesen sein. Oh, wie knapp.

Sie fiel auf die Knie. Sein Herz machte keinen Mucks und seine Lungen lagen regungslos, doch das Gluckern der Luftblasen im Strom bewegten Blutes konnte sie hören. Und totes Blut floss nicht. Er ist noch da, dachte sie.

Und doch lebte er schon viele Jahre nicht mehr. Sie hatte Geschichten gehört über Gestalten mit bleichen Gesichtern und braunen Zungen, die ihnen aus verwesten Kiefern baumelten. An Neumond krochen sie aus ihren Gräbern, hieß es. Sie brauchten nicht zu essen oder zu trinken, zu schlafen oder zu atmen. Sie verließen niemals ihren Pfad, obwohl ihnen die Krähe die Augen ausgehackt hatten. Sie waren willenlos. So – ohne trockene Witze, warme Hände und Schmerzensschreie – hatte sie sich die Untoten vorgestellt.

Wenn nur nicht sein Blut den Beweis erbrächte, dass er einer von ihnen war. Wenn da nur nicht Hadubrand wäre, der ihn lenkte wie eine Puppe an dicken Fäden.

„Heilige Mutter Gottes", entfuhr es ihr, die Hände vor dem Gesicht. Willenlos... mit Entsetzen in ihrem Blick wich sie zurück. Hatte der Krieger aus dem Norden all die Zeit mit ihr gesprochen oder – oder eine tote Zunge, die ein Ungeheuer bewegte?

Zwei, drei Schritte floh sie vor der liegenden Gestalt, die ihr nun vorkam wie ein verrenktes Stofftier, bis sie auf der Schneide des Messers ausrutschte und zu Boden flog. Das Metall schepperte auf dem kalten Stein, brachte sie zur Besinnung. Die gebrochenen Knochen in Brustkorb, Bein und Nase, auf der sie gelandet war, begannen sogleich wie Sirenen zu kreischen.

Turid stöhnte und lachte gleichzeitig, als sie nach dem Messer tastete. Das Klingen! Hell und klar ertönte es, fast genauso erlösend wie wenige Stunden zuvor, als Beowulf die Waffe gegen Hadubrands gefletschte Fänge geschleudert hatte. Welche Marionette würde es wagen, ihren Besitzer zu erdolchen? „Nein", sagte sie, „nein. Er hat sich gewehrt. Er hat dich gerettet."

Turid hielt inne. Bitter und salzig lag der feuchte Wind auf ihrer Zunge. „Und er hat dich gewarnt", flüsterte sie.

Den Kloß in ihrem Hals brachte sie nur mit einem Zittern hinunter. Hadubrand wartete auf sie. Hadubrand saß oben am Graben und wartete auf sie.

Sie war wie ein Soldat, der – ein verwischter Blitz, ein kurzes Rauschen – auf dem Schlachtfeld herumfährt und erkennt, dass der Pfeil des Feindes seinen Nebenmann getroffen hat. Er spürt den Geist der Spitze durch seine Haut dringen und hört sich sagen, was wäre, wenn – genau, wie Turid es nun bei Hadubrands Zähnen tat. Direkt in sein Maul wäre sie gelaufen. Darüber durfte ein Herz getrost die Lust am Schlagen verlieren.

„Aber..." Turid drehte sich herum. Der Dolch erbebte zwischen ihren Fingern, als sei er selbst vom Schüttelfrost befallen. Kalter Schweiß wälzte sich jeden Wirbel ihres Rückgrats hinunter.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt