Kapitel 21. Keine Zeit

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Jäh wallte heißes Blut wie Feuer durch ihre Adern und Turid stieß ihn in wilder Kampfeslust von sich. Ja, sie trachtete sogar danach, ihm an die Gurgel springen, diesem unbekannten warmen Feind in der Finsternis und formte die Finger zu einer Krallenhand, doch im letzten Moment besann sie sich und wich schwer keuchend zurück. Sie kannte diesen Geruch und den Stoff seines Hemdes, den sie nicht oft berührt, wohl aber in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Ohne ein Wort presste sie die Lippen aufeinander und drückte sich die Ellenbogen an den Bauch zu einer geduckten Haltung, als wolle ihr Gegenüber ihr eine Standpauke halten. Das wollte er nicht; er wollte sie nur atmen hören, am besten für immer.

„Du bist in mich hineingerannt", sagte Turid dumpf, weil Beowulf keinen Laut herausbrachte. Dass er ihr mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund ins Gesicht starrte, konnte sie ja nicht wissen. Als sein Schweigen die Höhle weiterhin in Grabesstille tauchte, fügte sie ein vorwurfsvolles „Das tust du sonst nie!" hinzu.

Ihre Gefühlsregung sorgte dafür, dass Beowulf sich wieder fing. Er brauchte noch einige zusätzliche Sekunden, um den unbekannten Geruch zu wittern, der an ihren Kleidern klebte – wild, weltfern, männlich. „Turid, du bist...", sagte er, am Leben, dann beherrschte er sich, „so."

Tatsache. Sie dachte daran, was für ein wahrhaft hässliches Bild sie abgeben musste: Struppige Haare, die Kleidung voller Blut und über und über mit Staub bedeckt. Dazu bleich wie eine Leiche. Wie beiläufig berührte sie die fleischige Schwellung über dem linken Auge und sog vor Schmerz sofort die Luft ein. „Ja, tut sehr weh", meinte sie.

Beowulf schluckte. „Der... der andere hat das getan?"

Sie biss sich auf die Lippe. „Alles meine Schuld", sagte sie, spürte seinen verwirrten Blick auf ihr lasten und neigte den Kopf zur Seite, um sich ihm zu entziehen. Dabei spürte sie das Kreuz, das wie durch ein Wunder noch an der Kette um ihren Hals hing, gegen ihre Brust schwingen. Turids Finger nahmen es in ihren Besitz. Es tat gut, mit ihm zu spielen.

„Sieh mich an, was ist mit dir geschehen?", verlangte Beowulf zu wissen, sein Ton nun wieder fast so klar wie gewohnt. Er sprach tief, mit einer Art väterlichen Sicherheit, als würde früher oder später alles zurück ins Lot gerückt, nun, da er hier war. Sie fragte sich, ob es echt war oder nur eine Maske.

Turid wollte nicht. Obwohl er ihr nicht nahe war, zog sie den Bauch ein und schlängelte sich an ihm vorbei, um ihren Weg fortzusetzen.

„Turid, was tust du?"

„Wasser."

„Nein!", rief er. „Du bleibst hier. Ich hole dir dein Wasser."

„Für ihn ist es."

Beowulf erstarrte. „Er lebt."

Turid antwortete ihm mit einer ausladenden Geste in Richtung Graben, in dem der Schall des schwachen Poch poch die Wände hinaufkletterte. Sie hörte ein weiches Geräusch und stellte fest, dass Beowulf sich durchs Haar fuhr, ja es sich regelrecht raufte. Nie zuvor hatte Turid eine solche Geste aus seiner Hand bemerkt. Dieses Zeichen der Verzweiflung passte nicht so recht zu einem wie ihm, der immer glaubhaft machen will, dass er alles kann und alles weiß. So zügig also war seine Tarnung gefallen... sie stellte sich vor, wie er zwischen ihr und dem Graben hin- und herblickte, die Kiefer mahlend, überrumpelt von einem Unglück, das seine Entschlusskraft überstieg.

„Geh zum See", bestimmte er plötzlich. „Ich sehe nach ihm."

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, rauschte er an ihr vorbei und ließ sie zurück. Hastige Schritte hallten durch die Dunkelheit, dann kniete er, auf eine Hand gestützt, nieder und spähte den Abgrund hinunter. „Himmel", ertönte seine Stimme, „bei allen Göttern, Turid."

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt