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„Warte hier, bis ich zurück bin... warte hier..." – Turid prallte mit der Zehe gegen einen Stein und machte in einem Schritt kehrt, der ihr lädiertes Bein an Schwung überforderte – „auf mich... bis ich zurück bin." Einen Moment lang starrte sie regungslos an die Decke, registrierte das Stechen im Oberschenkel, dann begann ihr Marsch von vorn. Als sei der Schmerz nur eine Vorstellung, die ihr gleichgültig war. Die Fäuste, bleich und ausgemergelt, ramponiert wie ein Gebiss, in dem Zähne fehlten, hatte sie mit roher Gewalt unter das Kinn gepresst, sodass sich Finger und Kiefer einen eisernen Wettstreit lieferten. Wer von beiden würde zuerst brechen? „Warte hier", murmelte sie. „Bis ich..." Turid verstummte und widmete sich stattdessen ihrer Lippe, als sei es ihr eigentliches Ziel, diese totzukauen.
Den Satz beendete die Höhle für sie. Das Trümmerfeld war erfüllt vom Schatten ihres Geflüsters, hier und da verstärkt durch die Schwinge des Schalls, da und dort verschluckt von einer Wand aus Finsternis. Es schuf an den dunkelsten Stellen einen luftleeren Raum, der den Klang von Turids Stimme wie ein Messer wetzte, wann immer ihn eine Silbe durchschnitt: Ich traf auf warte hier, die Worte klärten und vermengten sich, und Turid unterbrach ihre kreisförmige Wanderung – der sie stundenlang wie ein eingesperrtes Tier nachgegangen war – und heulte vor Wut. Es war der erste Schrei, den sie sich nach all der Zeit erlaubte, doch er kratze ihr nur in der Kehle, ohne Erleichterung zu verschaffen.
Am Anfang, da war das Trümmerfeld von engelsgleicher Geduld erfüllt gewesen, die überall zu schweben schien – nicht nur in Turid selbst, sondern auch in der Finsternis vor ihr. Ein Ort der Ruhe, weil die Zukunft nun endlich Zufriedenheit versprach, wo die Hoffnung wie eine Schneedecke über den harten Felsen lag. Es hatte sich richtig angefühlt, zu warten, zwischen besonnenen Seufzern zu dösen und hin und wieder zu lauschen, ob nicht Beowulfs Schritte schon durch die Gänge hallten: Wenn das nur geschah, so hatte sie gemeint, würde das Leuchten in ihren Augen verraten, dass sie bereit war. Aber das war in Ordnung, wenn er nur hielt, was er versprochen hatte. Warum er fortgegangen war? Wahrscheinlich, um sich zu sammeln. Turid wusste, wie schwer ihm der Gedanke ans Aufbrechen fiel, womöglich wegen Hadubrand und weil er zauderte, das Tier zu verlassen. Es schmerzte, eine Heimat aufzugeben, selbst wenn es eine triste Heimat war.
Als ihr bald die Lider zugefallen waren, hatte sie die Enttäuschung hinuntergeschluckt und sich auf den Schlaf eingelassen. Was folgte, war keines ihrer Nickerchen, sondern richtiger, echter Schlaf. Hier unten war der so selten wie eine Blüte im Winter, doch wenn er kam, fühlte sie sich danach wie von den Toten auferstanden: Er musste unmenschlich lang sein. So kam er in diesem Augenblick einerseits ungelegen, andererseits schadete es nicht, wenn sie ausgeruht war, sobald Beowulf wiederkam. Immerhin sollten die Dinge nun ernst werden. Kein stundenlanges Gerede mehr über die Ausritte ihrer Kindheit oder das Spiel von Ebbe und Flut.
Sie träumte davon; den Gezeiten, nicht den Pferden, obwohl sie ja das Meer nie gesehen hatte und sich die endlose blaugrüne Fläche aus Beowulfs Erzählungen nicht mehr als vorstellen konnte. Im Schlaf zuckten die Pupillen unruhig hin und her, als suchten sie nach ihm. Sie erwartete, durch ein Wort von ihm geweckt zu werden oder, wenn es sein musste, auch durch das Brennen seines Blicks. Tief im Unterbewusstsein grübelte sie, warum ihre Muskeln sich so verspannten und ihr ein düsteres Gefühl in der Magengegend wuchs wie ein giftiger Pilz.
Am Ende öffnete sie erst wieder die verquollenen Augen, als ihre Blase die Qual nicht länger aushielt und sie wie einen Blitz in die Höhe fahren ließ. Viele Stunden mussten vergangen sein. Keine Spur von Beowulf.
Also wartete Turid weiter. Sie konnte beinah zusehen, wie das Unwohlsein vom Rinnsal zur Flutwelle schwoll. Als ihr nach einem endlosen Nebel aus Zeit die Lider wieder schwer wurden, überlegte sie, ob sie sich übergeben sollte. Dann übernahm ihr Magen diese Entscheidung für sie.
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Turid und die Finsternis
FantasiDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...