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„Du kannst jetzt aufhören, mich zu ignorieren", schrie sie gegen den Sturm. Der verschluckte ihre Worte; Turids Unterlippe zitterte. Ahnte er denn, wie viel Überwindung es sie gekostet hatte, diese Frage in den Raum zu stellen? Wer?, wollte die schnippische Stimme in ihrem Inneren wissen. Beowulf oder der Wind?
Zum Teufel mit dir, dachte sie, aber sie konnte es nicht sagen. Wahrscheinlich hatte Beowulf sie gehört und drückte sich. Leicht musste es ihm ja fallen, so unsichtbar, wie er für Turid nach dem Spalt geworden war. Denn jetzt war sie nicht nur blind, sondern auch taub.
Froh um Hemd und Hosen drückte Turid ihre Arme an sich und versuchte, dem Tosen eine Regung zu entlocken. Ihrer Hand war das Seil unter Beowulfs Zug widerwillig entglitten. Wahrscheinlich werkelte er keine zehn Schritte entfernt damit herum, knüpfte es an einen Felsvorsprung oder was immer er vorbereitete. Doch seine Geräusche gingen unter. Der Sturm wehte sie alle fort, jedes Zurren, jeden Atemzug, jedes Herzklopfen.
Sie seufzte und lehnte sich an die Wand. Reue war das Nächste, woran sie dachte – ein tiefes Bedauern, dass sie ständig Fäden spann und sie selbst wieder zerriss. Beowulf tat ihr leid, weil sie ihn mit hinein zog, wo er doch nur hier vor sich hinexistieren und nie etwas sagen wollte. Das Intime machte ihn sanft und schwach. So fühlte sie sich nun für nichts und wieder nichts enthüllt, geschält wie eine Frucht, die man wegwirft.
Nur eine ihrer zwei Vermutungen lag richtig, denn Beowulf zurrte nicht, noch knotete er. Er stand beinah in Reichweite gleich einer Statue im Wind, allein die Haare flatterten ihm ins Gesicht, und starrte zu Boden. Er hatte das Seil lose gehalten wie eine Opfergabe, jetzt sanken ihm langsam die Hände hinunter.
Nicht einen Finger hatte er gerührt. Nur Turid beobachtet, wie sie in die Schwärze schlug, als seien ihre Arme zwei Schwerter, und mit einem Blick nach ihm rief, in dem es glühte. Als sie die Augen schloss und aufgab, begann noch etwas zu glühen – seine Wangen – und die Scham kroch ihm den Rücken hinauf. Was ist Ehre, fragte er sich, vielleicht tagein, tagaus einer Frau zuzusehen, die dieser Musterung schutzlos ausgeliefert ist? Ihr mit den Augen die Kleider herunterreißen und dabei ihr ahnungsloses Gesicht genießen? Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte er über diese Vorstellung bitter gelacht, damals, als er noch dachte, dass ihm dafür das Leben erloschen war. Heute – gerade jetzt nach diesen Augenblicken, denen Warnungen über Warnungen vorausgegangen waren – wurde ihm bewusst, dass er genau das tat: Er beobachtete sie, und sie entzückte ihn. Sie war nicht hübsch. Aber auf ihren Leib hatte das Leben eine Geschichte geschrieben, die seine eigene war.
Wie ein Tier, das aus eiskaltem Wasser steigt, schüttelte er sich. Schaute beklommen auf das Seil. Dann den Graben hinauf, wo der Wind so scharf entlangschnitt, dass an seinen Rändern kleine Kiesel tanzten, als wögen sie nichts. Einen Moment später hatte er ihre Hand ergriffen und sanft zu sich gezogen.
Immer war da ein Laut gewesen, der beide vor der Vereinsamung gerettet hatte, vom Herzen, der Lunge, allen Knochen und Venen und Adern – ein Schnalzen, Knacksen, Schnappen, Schnauben, Rauschen, Seufzen oder Zischen – und nicht zuletzt das Zentrum ihrer Welt, die Sprache. Ja, sie mochte zunächst fremdartig gewesen sein, waren sich Zeit und Heimat doch fern, in denen sie gelebt hatten; aber sie hatten sich verstanden, mit jeder Stunde, die sie kalt und getrennt voneinander, aber miteinander verbracht hatten, mehr als zuvor. Jetzt dröhnte nur der Sturm in ihren Ohren und fegte alle Worte fort. Übrig blieb das Fleisch, das sie am Körper hatten.
Er konnte fühlen, wie ihre zarten Finger gegen seine starken Hände stießen. Früher hatte er wilde, hässliche Hände mit Hornhaut und Schwielen an den Knöcheln gehabt – die Hände eines Kühnen auf Wanderschaft – wenn auch das Bild einer Kinderhand in der Pranke falsch war. Denn er ließ ihre warme Haut erstmals bei sich ruhen, ihn erkunden, bis sie tastend erkannte, dass seine, tief verborgen unter Schmutz und Staub, die weichere war. Der Adel hatte dies auf dem Gewissen und durch die Finsternis war es endgültig geworden. Zuweilen vermisste er seine alten Hände. Er hatte sie geliebt.
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Turid und die Finsternis
FantasyDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...