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Die Haare auf Turids Wolldecke zitterten, und irgendwo tropfte Wasser von einem Felsvorsprung. Sag etwas, bitte, bitte, dachte sie. Das erste Wort ist das schwerste. Überwinde es.
„Hast du schon einmal im tiefen Winter nach Norden geschaut?", fragte Beowulf.
Turid, die mit Es war einmal gerechnet hatte, blinzelte. „Was? Natürlich."
„Was hast du gesehen?"
Sie überlegte. Die Erker über den hohen Mauern von Gremholdshand hatten nur kleine Fenster gehabt, um den Wind fernzuhalten, der zur kalten Jahreszeit seine Fracht durch die Luft schleuderte wie ein Messerwerfer. Dennoch hatte sie als kleines Mädchen die Wangen gegen die Steinkante gepresst, um durch den schmalen Spalt einen Blick in die Ferne zu erhaschen. „Kahle Bäume", sagte sie, „unzählige. Dazwischen die Schneisen der Holzfäller und die Pfade der Reisenden."
„Ja", sagte Beowulf geduldig. „Und darüber, Turid?"
Erst starrte sie ihn an, dann lächelte sie. Ja, es fiel ihr wieder ein und trieb ihr beinah Tränen in die Augen, so schön war die Erinnerung daran. „Der Himmel war schneeweiß."
Er brummte zustimmend. „Nirgends ist er so weiß wie im Norden", erklärte er, „und dort, wo der Himmel am hellsten ist..." Sie spürte, wie sich sein Blick in ihren Augen verfing wie Licht, das nicht da war, „das ist die Heimat der seltsamsten Mär, die du dir vorstellen kannst", sagte er leise.
„Aber du hasst sie", flüsterte sie zurück.
„Wen?", er schreckte hoch. „Märchen?"
Sie nickte. „Alle... und dieses. Oder – alle wegen diesem?", entfuhr es ihr.
„Du erinnerst dich daran."
„Natürlich. Es war das letzte Mal, dass wir uns gestritten haben, bevor..." sie zögerte und hob die Hand, um auf die Trümmer hinter der Finsternis zu deuten, „das hier angefangen hat. Bevor alles anders wurde, meine ich." Kurz verstummte sie, und er mit ihr.
„Kann ich dich etwas fragen?", beendete er die Stille, bevor sie ihnen zu schwer auf den Schultern lasten konnte.
„Aber natürlich. Verzeih, ich habe dich unterbrochen."
„Wann wird ein Leben zur Geschichte?"
Eine kleine Weile starrte sie ihn wieder an, mit schiefgelegtem Kopf und einem verspielten Funkeln in den Augen. Doch die Schwärze verhüllte ihn zuverlässig wie immer. Ihr Blick wanderte in die Höhe und zeigte nur der Höhlendecke, wie sehr Turid grübelte, um nichts Falsches zu sagen. „Man muss nicht tot sein, glaube ich", erklärte sie vorsichtig. „Es reicht, ein Geheimnis zu haben, das die Welt, in der man lebt, in Aufruhr bringt."
Ob er nickte oder nicht, würde sie nie erfahren, aber die kleine Pause verriet ihr, dass ihm Sätze auf der Zunge lagen, gerade erst im Begriff, gebildet zu werden. „Und wann ist die Geschichte kein Ereignis mehr?", wollte er wissen. „Wann ist sie das, was du ein Märchen nennst?"
„Ich weiß es nicht", seufzte sie. Das Tröpfeln schien jetzt fern, als hätte sich ein Schleier über die Luft gelegt, um ihnen zuzuhören. „Ich glaube, wenn die Menschen hinter vorgehaltener Hand darüber reden, ist es noch die Geschichte, ein Gerücht. Sobald sie anfangen, sich von der Vorstellung zu lösen, dass diese Worte zu ihrer Welt gehören – wenn sie zuhause im Feuerschein beisammensitzen – dann, ja, ich denke, dann kann man sagen, dass aus ihr eine Legende geworden ist."
Beowulf machte wieder einen anerkennenden Laut. Stoff raschelte, als er sein Gewicht verlagerte, die Arme hob und wieder senkte, weil er nicht wusste, wohin mit ihnen. Erst, als Turid sich ein Herz fasste und ihre Hand wie beiläufig auf sein Knie legte, hielt er inne und atmete kaum hörbar aus. Und schluckte. „Stell dir vor, wir hätten ein Feuer."
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Turid und die Finsternis
FantasyDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...