~
Also wartete sie, dass Hadubrand kam.
Seltsame Vorstellungen kreisten in ihren Gedanken herum. Beowulf hatte angekündigt, das Tier bringen zu wollen, und Turid fragte sich, wie. Würde er ihm einfach sagen – ‚geh, Turid will dich sehen?' Oder würde er es anlocken und herführen wie ein Hirte seinen Schäferhund?
Das glaubte sie nicht. Es musste einen Grund geben, warum sie Beowulf nie gemeinsam mit dem Ungeheuer hörte, es war, als könne immer nur einer von beiden in der Höhle sein. Es brachte sie zum Grübeln. Offensichtlich handelte es sich um zwei verschiedene Körper und Geiste, dennoch...
Was Hadubrand war, davon hatte sie nun eine vage Ahnung. Die Menschen oben erzählten allerlei Geschichten an ihren Lagerfeuern, Sagen von Drachen und Teufeln, und sie hatte immer gewusst, dass sie einen wahren Kern haben mochten. Es hatte Leugner gegeben, vor allem die der Berater ihres Vaters, sehr sachlich denkende Männer, die von der Reinheit der Welt und des Ersichtlichen vor Gott überzeugt gewesen waren. Seht, hatten einige gesagt, wenn es regnet, dann kommt Wasser von Himmel, und wenn die Sonne scheint, wird es warm und das Korn gedeiht, der Herr segnet uns. Die Welt ist immer gleich, Tag für Tag, Jahr für Jahr, ohne dass je eine dunkle Magie für Aufruhr gesorgt hätte. Wild und Vieh und anderes Getier lebt hier in den Wäldern, doch die Fabelwesen der Mären hat noch nie ein Mensch gesehen.
Demgegenüber die geheimnisvollen alten Frauen mit ihren funkelnden Augen, die von Hexerei und dunklen Geistern berichtet hatten, die des Nachts durch die Länder zogen und den Aberglauben nährten. Wenn in einem der vielen Dörfer des Fürstentums wieder ein Bauer verschwand, dann war es stets der Werwolf oder ein fleischfressender Riese, der ihn geholt hatte. Die Kinder fürchteten und liebten diese Schauergeschichten zugleich, sie spielten den Ritter, der die Drachen ersticht und die Trolle köpft, sie bastelten sich Puppen von lieben Mädchen, die von dreiköpfigen Greifvögeln geraubt werden, sie malten turmhohe Tausendfüßler in den Staub, wie sie Städte zermalmten. Und im Herzen glaubten sie daran.
Das Gesetz der Kirche, die mächtige Stimme im fernen Süden, hatte Turid zu dieser Frage nie erfahren. Sie kannte nur das Wort der Priester und Mönche und die hatten zumindest nie abgewiesen, an derartige Magie zu glauben. Nein, vielmehr schienen sie sie willkommen geheißen zu haben, als Schrecken vor einem sündigen Leben unter dem wachsamen Auge des Herrn.
Schlussendlich, dachte Turid, schlussendlich haben die Frauen Recht gehabt. Die Unterwelt gehört dem Teufel. Das Monster am Ende des Schlundes existiert.
Das laute Schnauben ließ sie aus dem Schlaf fahren wie ein von der Hornisse gestochenes Pferd. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war, was sie hier tat, warum sie ihre Lider nicht öffnen konnte. Dann kamen alle Realitäten auf einmal zurück, dass ihre Augen längst bereit waren, zu sehen, aber die Finsternis sie verschluckte, wie kalt und hart der Steinboden war und wie vergeblich ihre Nase den fauligen Geruch aus ihren Höhlen vertreiben wollte.
Ihr Instinkt befahl all ihren Gliedern, um sich zu schlagen und fortzurennen, jetzt, da sie immer noch in der Nähe des Schlundes an die Wand gelehnt und nicht an den Ring gefesselt war, der irgendwo in der Dunkelheit auf sie wartete. Sie besaß die Freiheit dazu, ihr Glück auf die Probe zu stellen und an Ort und Stelle ihre These zu testen, dass Hadubrand sie nicht fressen würde. Fast rechnete sie damit, aber dann tat ihr Verstand etwas, das sie niemals erwartet hätte: Wie selbstverständlich übernahm er die Kontrolle über ihre Glieder und führte sie mit harscher Hand augenblicklich zum Stillstand, bis sie steif und flach atmend auf dem Boden lag. So schnell war es geschehen. Ein Dankesgebet verließ stumm ihre Lippen.
Die Prozedur des letzten Males, als sich das Tier ihr genähert hatte, wiederholte sich in fast völliger Perfektion. Sie vernahm das tiefe Drumm, das rauchige Atmen, die Arbeit der riesigen Knochen und Muskeln und Sehnen und das Klack Klick Klack. Sie fühlte heiße Haut in ihrer Nähe wie ein lichtloses Lagerfeuer.
DU LIEST GERADE
Turid und die Finsternis
FantasiDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...