Kapitel 85. Eine Spur

336 30 4
                                    

~

Das Rätsel um das alte Boot löste sich auf einen Schlag, der sich mit der Sekunde deckte, in der Turid die Augen aufriss. Im ersten Moment gähnte sie nur und fuhr sich durchs Haar, während sie sich aufzurichten versuchte. Sie war verwirrt. Irgendetwas war anders.

Sie erhob sich aus dem Nest, das sie sich in den Küstenbewuchs gegraben hatte und tat, was sie jeden Morgen tat – die Augen schließen, die Ohren spitzen, sich einmal umdrehen und tief einatmen. Ihre Sinne hatten das Spiel in der Schwärze perfektioniert, sodass sie nach wenigen Augenblicken sicher sein konnte, dass da niemand war. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Wieder kein Beowulf. Erleichterung kribbelte in ihrem Nacken. Kein Beowulf, kein Hadubrand.

Mit einem Seufzer ließ sie sich zurücksinken und schmatzte schläfrig. Die Luft schmeckte nach Stein, Pflanzen und Meer.

Turid wartete seit Wochen. Ihr Schlafplatz glich einer primitiven Behausung, die ihr – aus Felsbrocken, Schilf und angeschwemmten Brettern errichtet – ein wenig Schutz vor der Feuchtigkeit bot. Zwischen den Steinen um sie herum ruhten allerlei Verstecke: Vorratskammern aus Insekten, Fröschen und Moos, Spalten voller geflochtenem Allerlei, das sie einmal brauchen könnte, und Kuhlen, in denen sie sammelte, was das Meer anschwemmte – es war nicht viel. Hier und da rann trinkbares Wasser an den Wänden entlang und abseits ihres Nestes waren Fische im Sand vergraben. Sie hatte gelernt, dass er ihnen die Nässe entzog und sie haltbar machte. Beowulf wäre beeindruckt. 

Sie erlaubte sich, noch eine Weile zu dösen. So recht aber wollte der Schlaf nicht kommen. Schließlich war immer noch etwas anders.

„Also", sagte sie sich. Mit einem Ruck war sie auf den Beinen und prüfte noch einmal nach, was sie hörte, schmeckte und spürte. Ein wenig Geplätscher hier, ein bisschen Gekrabbel da. Alles beim Alten. Oder?

Sie strich an sich hinunter und berührte die Fetzen, die ihr am Leib hingen. Nicht mehr lange und ich laufe nackt herum, so wie er es erzählt hat, dachte sie. Sie fühlte sie sich verspannt, etwas müde, etwas lädiert, sonst gut.

Also stolperte sie über die Steine. Ihre Karte war noch nicht perfekt und so dauerte es, bis sie das Ufer erreichte.

Als sie das Wasser an den nackten Zehen spürte, tat ihr Herz weh. Zu frisch war die Erinnerung daran, wie sie sich den Sand hinaufgezogen und geweint hatte. Wird er jemals zurückkommen?, flüsterten die Wellen ihr zu, wie lange noch, wie lange noch?, mit jedem Rauschen. „Vielleicht nie", antwortete sie und lächelte traurig.

Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie merkte, wie sehr diese brannten. Mehr Schmerz als üblich in den Rissen ihrer Haut.

Zögerlich kniete sie sich hin und streckte den Finger ins Wasser. Als sie probierte, war sie sich todsicher, dass dies nicht das Wasser war, das hier sonst gegen die Felsen schlug. Man hatte es nie trinken können, doch jetzt schmeckte es ungenießbar.

„Was stimmt hier nicht?", flüsterte sie. „Turid, was ist?"

Das Zweite, was ihr auffiel, war, dass die Tiere unruhig wurden. Sofort schloss sie die Arme um die Schultern und duckte sich. Hadubrand konnte mucksmäuschenstill sein, wenn er wollte. Aber er würde es nicht schaffen, sich hier an sie heranzuschleichen, oder? Stumm schüttelte sie den Kopf. Was auch immer geschah, es geschah langsam, was dem Tier nicht ähnlichsah.

Turid nahm alle Willenskraft zusammen, setzte sich auf einen Stein und wartete. Sie saß dort, bis die Frösche quakend ins Höhleninnere krabbelten und die Insekten sich in die Höhe hoben, um das Ufer zu verlassen. Sie meinte sogar, draußen in den Fluten kleine Flossen panisch schlagen zu hören.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt