Kapitel 14. Die Vogelhochzeit

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Von Beowulf vernahm sie lange Zeit kein Wort. Die Stunden, in denen er fort war oder auch nicht – er konnte unhörbar sein, wenn er wollte – verbrachte sie in der vertrauten Nische. Sie kam sich vor wie ein Dachs, wie sie da mit eingezogenem Kopf unter der niedrigen Decke kauerte, an den Kastanien herumnagte und mit funkelnden Augen alles beobachtete, was sich in der Schwärze vor ihr bewegte. So zumindest musste sie für Beowulf aussehen.

Sie würde ihm nicht gönnen, was immer er sich von ihr vorgestellt hatte. Vielleicht wollte er sie provozieren. Vielleicht sah er auch wirklich kein Problem darin, sich vor ihm zu entblößen. Immerhin hatte sie keine Ahnung, was er von ihr kannte aus den Wochen, da sie halb bei Bewusstsein in ihrem Eck gelegen war und mit dem Fieber kämpfte. Es war ihr gleich. Sie zog Grenzen.

Die Nüsse waren bitter und hart wie Stein. Sie hatte sie auf der Zunge gehalten, sodass ihre Textur weich und schwammig wurde, und sie gekaut wie zähes Leder, bis sie meinte, dass es Zeit sei, sie in ihrem Rachen verschwinden zu lassen. Den Kastanien erging es ebenso. Ob sie bekömmlich waren oder nicht, würde sich zeigen – sie hatte Schlimmeres gegessen. Zum Schluss schluckte Turid das Stroh. Nicht, dass sie allzu hungrig gewesen wäre. Von Hadubrands Erzeugnis hatte sie sich zwar längst am auserkorenen Ort neben dem Ring erleichtert, aber selbst nach der kräftezehrenden Wanderung grummelte ihr Magen nicht. Nein, es war vielmehr das Wesen der Tiere, welches Körper und Geist übernommen hatten, das Prinzip, immer zu essen, wenn Nahrung erreichbar war.

Den Faden der Perlenkette, überraschend intakt für sein Alter, verschnürte sie fest um das kleine Kreuz aus Holz und diesen neu gewonnenen Talisman legte sie sich um den Hals. Der Ring ruhte am Zeigefinger der rechten Hand. Wenn sie schon unnütz war, konnte Turid sie wenigstens guten Gewissens mit dem Besitz der Verstorbenen schmücken.

Schmuck in der Dunkelheit. Ein Aberwitz... geistesabwesend fuhr sie sich ans linke Ohr, dessen Läppchen gespalten war. Den rechten Ohrring hatte sie irgendwo auf der Strecke zum Richterfelsen verloren und das Loch war in der Höhle zugewachsen. Die Vorstellung gefiel ihr, dass ein Straßenkind ihn im Matsch gefunden und jauchzend nachhause getragen hatte, ein Segen Gottes für eine arme Familie. Sie ließ die Finger wieder in den Sack gleiten und berührte die kurzen Stoppeln der Feder. Damit wusste sie ohne Licht und Pergament nichts anzufangen.

Die Flöte allerdings... sie war alt und krumm, von Hand geschnitzt und sie spielte, das hatte Turid zum Leidwesen Beowulfs bewiesen.

Vorsichtig ließ sie Luft in das Mundstück strömen – dasselbe schmerzhafte Kreischen wie vorhin. Dann drückte sie den Zeigefinger auf das erste der sechs Löcher. Der Klang war dünn, aber sauber.

Es war der erste Ton ihres Kinderliedes. Die Vögel wollten Hochzeit halten...

Turid lächelte.

Nach einer Weile hatte sie das Instrument verstanden. Erst musste sie das erste Loch zuhalten, dann das dritte, dann beide im Wechsel, schließlich das zweite und das vierte im Wechsel und für den Ton am Ende der Strophe die ersten beiden zusammen. Es klappte immer reibungsloser. Nur ihr Fidiralala musste sie singen. Dafür war die kleine Flöte zu einfach gebaut.

Der Auerhahn, der Auerhahn

Das war der würd'ge Herr Kapellan

Fidiralala...

Die Amsel war die Braute

Trug einen Kranz von Rauten

Fidiralala...

Ein schönes Lied, dachte sie. Es war kein kopfloser Liebesgesang, den sie sich von den Musikanten des Hauses hatte anhören müssen, in dem der edle Ritter seinem Fräulein den Hof machte. Krank vor Sehnsucht warf der Verehrer sich in die kühnsten Abenteuer und pflückte allerlei Blumen bis zum glücklichen Ende. Die letzte Strophe war stets von den Anstandsdamen aussortiert worden.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt