~
Zwei oder drei Mal fiel sie in tiefen Schlaf. Immer, wenn sie erwachte, waren ihre Augenlider verklebt und ihr Mund trocken; darin lag der Geschmack der Höhle – Kalk und Blutluft. Wie früher, wenn Beowulf mit einer langen Wanderschaft ihren Durst ausgereizt hatte und sie hilflos an ihrer Kette saß, leckte sie dann die Tautropfen von den Wänden. Doch das füllte ihren Magen nicht. Später dachte sie oft an das Fleisch des Eroberers, über das sie, halb bei Bewusstsein, in der Finsternis gestolpert war, und fragte sich, wie schlimm es wohl noch werden mochte.
Hadubrand wurde zum Hintergrundgeräusch, so wie man das Rauschen des Meeres oder den Wind in den Bäumen hört. Bald nahm Turid es gar nicht mehr wahr und spitzte nur noch hin und wieder konzentriert die Ohren, ob sie sich das schwache Kratzen wohl einbildete. Dass sie das nicht tat, bewies sein Flehen, das nun nicht mehr erbost, sondern bitterlich durch die Gänge schallte: Turid hätte Mitleid mit dem hungrigen Tier haben können, wüsste sie nicht, wem sein Appetit galt.
So war also Beowulf der Einzige, dem es an nichts mangelte. „Ironie", krächzte sie, als sie nach vielen Stunden noch immer an der Felswand lehnte und sich wunderte, warum ihr nicht mehr die Augen zufielen. Längst hätte es schon wieder so weit sein müssen, doch Turid fühlte sich – wach. Nicht ausgeschlafen, aber doch... klar im Kopf. Zu klar für ihren Geschmack, denn mit jedem Atemzug tat ihr Körper ein klein wenig mehr weh, pulsierten etwas buntere Muster vor ihren Augen.
Sie neigte den Kopf zu Beowulf, der, wie stets, atmend zu ihrer Seite lag. Beowulf, dem sie irgendwann hastig Freiraum verschafft hatte, aus Angst, er möge plötzlich erwachen und sie dabei erwischen, wie sie ihn streichelte. Beowulf, der immer kälter wurde.
Mit jeder Sekunde schwand ihre Hoffnung, dass er sie beide doch noch aus ihrer Not befreien würde. Was hast du denn erwartet?, fragte sie sich. Ihn nach einem kurzen Erholungsschlaf aufstehen zu hören, als sei nichts gewesen? Dass er sie an einen sicheren Ort führte und wusste, wie es danach weiterging, so wie immer?
„Das war einmal", sagte sie zu ihm. „Jetzt bin ich dran."
Ein Tropfen schlüpfte ihr vom Stein in den Nacken und Turid erschrak über seine stechende Kälte. Zögerlich legte sie wieder die Hand an Beowulfs Wange, die noch kälter war. Das Haar kam ihr auch viel feiner vor als früher, als hätte sie eine Decke zwischen ihnen beiseitegeschoben. Und ihr Bein – eigentlich alles an ihr, vorneweg die gebrochene Nase – schmerzte wie die Hölle. Jeden Riss in der Haut und Knacks in den Rippen konnte sie spüren, und das waren nicht wenige. Nicht einmal nach der Hatz mit dem Eroberer hatte sie sich so elend gefühlt.
Am allerschlimmsten war die Sorge. Beowulf hatte nun schon länger durchgehalten, als es jedem normalen Menschen mit solchen Verletzungen möglich gewesen wäre. Doch auch wenn das Blut nur träge floss – es floss und floss und floss in alle Ecken und Ritzen, sodass Turid sich die Mühe sparen konnte, es von ihrer Haut herunterzukratzen.
Was aber konnte sie schon tun? Nicht einmal ihm war damals etwas Besseres eingefallen, als ihren zertrümmerten Oberschenkel zu verbinden und der Zeit zu überlassen. Nicht anders musste es ihm nun mit der Bauchwunde ergehen. Und die Hand... die Wahrheit war, dass Turid an alles andere denken wollte als daran. Später. Später würde sie ihm die Hand abtrennen, aber nicht jetzt.
Ein Schlag, der aus ihrem Inneren kam, löschte die Gedanken aus.
Jeder Muskel ihres Körpers wurde schlaff. Turid kippte vornüber und krümmte sich. Ein Zittern befiel ihre Glieder, sodass sie sich zu einer Kugel geformt am Boden wiederfand und leise schrie; ein Gefühl wie eine abgeschnürte Kehle, ein heftiger Schweißausbruch, Krämpfe – in ihren Sehnen breitete sich ein hässliches Ziehen aus und ihr Magen rumorte, ballte sich zusammen wie eine Faust. Keuchend drehte sie sich herum, dann wieder zurück, schlug um sich und hoffte aus ganzem Herzen, dass dies nicht das Sterben war. Bei allen Himmeln, sollte es das mit ihr gewesen sein?!
DU LIEST GERADE
Turid und die Finsternis
FantasyDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...