Kapitel 45. Die Schwachen und die Starken

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Sie betrachtete den Haufen skeptisch, wühlte ein wenig mit den Fingern darin herum. Die Vorstellung, dass dieser Wirrwarr aus halb verfaulten Fasern ihr zur Hilfe gereichen sollte, wollte Turid nicht so recht gelingen. Er stank nach Nessel und Flachs, die im Inneren eines besonders alten Seiles langsam verwesten. Und ohne Zweifel war es so. Die leichte Note von Händeschweiß, das Vermächtnis der Verstorbenen, machte Turids Eindruck nicht unbedingt besser.

„Ich weiß nicht", sagte sie. Dann gleich noch einmal: „Ich weiß wirklich nicht." Sie war nicht mehr so klapperdürr wie früher, aber diesen Seilen ihr Gewicht anzuvertrauen schien ihr nun doch sehr gewagt. Dunkle Bilder zogen an ihr vorbei, Szenen, in denen das uralte Gewebe zerriss und ihren Körper wie eine Puppe den Hang hinunter gen Grabenboden purzeln ließ, wo er mit gebrochenen Gliedern liegenblieb. Turids Bein schmerzte unglücklich. Wie verband man hunderte ellenlange Knötchen miteinander, ohne beim ersten kräftigen Ruck nur noch Luft in den Händen zu halten?

Ging es nach Beowulf, hatte Turid einen Schatz vor sich. Er hatte den Sack zu ihren Füßen ausgeleert, stolz, wie einen Beutel voll Gold. „Wie willst du die Steigung sonst bezwingen?", fragte er, ihren starren Blick im Visier. „Und später – Spalten überqueren? Oder auch nur an einem Stein vorbeikommen, der größer ist als du?"

Sie saßen beide auf dem Boden, Turid, weil sie einen Fund zu untersuchen hatte, Beowulf, weil er noch immer zu schwach zum Stehen war. Weil er das nicht zugeben wollte, pickte er hier und da in der Unordnung herum und brachte das Bild durcheinander, das Turids Tastsinn vom Seilgewühl erschaffen hatte. Sie hatte nichts gesagt, nur die Stirn gerunzelt.

„Sicherlich nicht damit", meinte sie.

Beowulf schien unbeirrbar, denn sein Kopfschütteln raschelte laut. Bestimmt war er gekränkt, weil Turid seinen Einfall nicht angemessen genug würdigte. Falls ja, wollte er es sich nicht anmerken lassen. „Das wird ein gutes Stück Arbeit", fuhr er fort, „und von Seilerei habe ich nie viel Ahnung gehabt. Aber mit gesundem Menschenverstand..."

Turid schnaubte. „Gesunder Menschenverstand! Wir können uns darum streiten, wer von uns beiden weniger davon hat."

Zu ihrer Überraschung lachte er leise. „Ewige Dunkelheit kann einen verrückt machen, das stimmt. Aber es ist der Umgang mit unseresgleichen, der dabei zerstört wird. Das meiste andere bleibt. Glaub mir." Er lehnte sich zurück und strich sich über die Haare. Sein Ton war mit den letzten Worten nachdenklich geworden.

Turid erinnerte sich an das beinahe kunsthandwerkliche Geschick, mit dem er das Fleisch des Eroberers aus dem Brocken gelöst und getrocknet hatte und wollte ihm schon Recht geben. Dann fiel ihr auf, dass er unseresgleichen gesagt hatte und ihr wurde warm ums Herz. Sie wusste selbst nicht, warum sie das zuließ, aber sie tat es. Der Preis war, dass sie stumm blieb.

„Sieh mal", versuchte Beowulf es noch einmal, nun mit einem Hauch halb gespielter und halb ernst gemeinter väterlicher Weisheit, „keine Pflanzenfaser hält ewig, ich weiß. Aber – " er zog etwas unter dem Haufen hervor – „das ist ein Hanfseil. Stark und beständig. Es wird dich allemal tragen."

Turid brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass er es ihr hinhielt. Sie nahm es, und es war rau. Nicht anders als die anderen Seile. Sie hatte keine Ahnung, woher Beowulf zu wissen glaubte, dieses hier sei ein besseres.

„An den Häfen haben sie solche als Schiffstaue verwendet", sagte er erwartungsvoll.

„Schön, und wann war das? Saß Christus noch auf so einem Boot? Es wird reißen."

Beowulf rückte wieder näher. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er die Hände hob und damit beschwichtigende Gesten in die Luft malte. So zumindest hätte es ihr Vater getan. Die Männer sind ja doch alle gleich, dachte sie. „Ich spreche nicht von den klapprigen Barken, mit denen ihr eure Burggräben befahren habt. Dieses Seil... was sagt dir deine Nase?"

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt