Kapitel 40. Kleine Gefechte

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Turid zerpflückte die Stoffe mit einer Vorsicht, die leicht mit Lustlosigkeit zu verwechseln war und so gar nicht zu dem wilden Gewühl passte, das sie zuvor im Gang hatte walten lassen. Aber damals, da war es ihr um einen Spaß gegangen, der ihr jetzt kindisch erschien – kindisch und dumm. Die Kleider waren immerhin uralt und der kümmerliche Rest von dem, was der Einsturz übriggelassen hatte. Mehr würde sie nicht bekommen... wenn nicht gerade noch ein Mensch den Schlund hinunterfliegt, kam es ihr in den Sinn. Das Schlucken blieb ihr in der Kehle stecken.

Trotz ihrer lädierten Hand waren die Bewegungen, mit denen sie Leder von Flachs und Leinen von Seide trennte, überraschend flink. Dass sie dazugelernt hatte, bewies nicht nur der behände Umgang mit Material, an dem Menschen der Oberwelt ohne Augenlicht verzweifelt wären. Dunkel erinnerte sie sich an das letzte Mal, als sie sich durch die Bündel gewühlt hatte: Mit flauem Magen unter dem strengen Blick Beowulfs, der ihr damals noch undurchschaubar vorgekommen war. Sie hatte sogar nicht einmal mit Sicherheit gewusst, ob er überhaupt menschlich war und wenn sie sich richtig entsann, hatte er es sogar einmal verneint. Heutzutage war Turid über jeden Zweifel erhaben, auch wenn, zugegeben, in der Finsternis weiterhin alles möglich war. Wichtig ist, sagte sie sich, dass du dich nicht für deine abstrusen Befürchtungen schämst. Wie nämlich hätte sie anders denken können nach all den Geschichten von Ungeheuern und blind vor Angst? Eigentlich trafen die Märchen ja sogar zu, dachte sie, zumindest in einem von zwei Fällen. Hadubrand zumindest hätte die Oberwelt gewaltig in Staunen versetzt.

Der Gedanke an dieses frühere Ich, das trotz der schlimmen Erlebnisse so viel unbedarfter gewesen war als Turid heute – war ihr doch später nur noch viel Schlimmeres widerfahren – zauberte ihr ein schwaches Lächeln auf das Gesicht. Sie war froh, dass sie Beowulf nun besser verstand. Und sie war froh über das Gefühl, erwachsen geworden zu sein, auch wenn jener Tag in der Höhle kaum ein Jahr zurücklag; allein, dass sie so lange überlebt hatte, war ein Triumph, der beinah süchtig machte. Wenn sie doch nur noch etwas reifer wäre.

Das kurze Hochgefühl verflog, als sie nach den weiteren Bündeln tastete und feststellen musste, dass es die nicht gab. Turid hielt inne und seufzte.

Damals hatte sie einen Klapperbeutel und drei Kleiderknäul gezählt, zwei davon voll mit Bauernhabe, das andere durch Beowulfs prüfende Hand mit edleren Stoffen befüllt. Sie erinnerte sich an Brokat und Seide und sogar die ein oder andere kleidähnliche Gewand – und jetzt war alles fort. Was hier unter ihren Fingern lag, konnte nicht mehr als ein Bruchteil jener Stücke sein, die sie damals in den Händen gehalten hatte. Hier und da zierte traurig der ein oder andere Lederriemen oder ein kurzes Seil den durchwühlten Haufen.

Wen wunderte es auch, Beowulf hatte sie ja gewarnt. Der Einsturz hatte seinen Tribut gefordert.

„Ach Herrje", entfuhr es bei dem Versuch, sich eine geeignete Garnitur zusammenzustellen. Die Leinenwebkunst hatte sie erst für Tuniken gehalten, die sie auch früher beim Ausreiten hin und wieder getragen hatte; bei näherer Untersuchung allerdings stellten sie sich als Hosen – echte Hosen – heraus, eine sogar mit einem ausgeleierten Ledergürtel umschlungen, dessen kreisrunde Silberschnalle noch intakt war. Turid hatte ihn damals verschmäht und sich den anderen Gürtel gegriffen, ein damenhaftes Band, das jetzt ebenso verschüttet war wie alles andere, was sie sich geholt hatte. Ausgerechnet die Kleider, schimpfte sie im Stillen, warum nur musste sich die Höhle alle Kleider nehmen?

Wie ihr kurz darauf einfiel, stimmte das nicht ganz: Eines trug sie noch am Leib. Hätte sie jedoch nicht gewusst, wie sich der verzierte Stoff einmal angefühlt hatte, hätte sie den Fetzen verächtlich beiseite geworfen. Recht hat Beowulf ja, dachte sie mit verkniffenem Mund, als sie an sich hinunterblickte und sich vorstellte, dass sie selbst den ärmsten Bettler unterbieten musste.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt