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Gegen Mitternacht löste sich Beowulfs Gestalt vom Boden wie ein Geist aus einem Nebelfetzen. Es lag ein Geheimnis auf seinem Gesicht. Ein Gewitter, das seine Schatten vorauswirft – oder Totenflecke, die sich zart, schwarz und purpurn von einer Haut abheben, unter der Gift pulsiert. Sein erster Schlag hatte ihm die Augen aufgestoßen. Klopf klopf klopf klopf...
Der König der Finsternis hatte gesprochen: Jetzt war es Zeit. Sein Untertan nickte ergeben, doch der Schmerz machte ihm die Seele zum entvölkerten Land.
Noch dachte er nicht an Widerstand, als er sich in der Finsternis verkroch, um sie zu beweinen.
Für Turid besaß das Leben, wie so oft in der Dunkelheit, keine Dauer. Ob ihre geschlossenen Lider seit Stunden oder seit Tagen zuckten, ob sie einen oder hundert Momente brauchte, um die Leere zu beklagen, die Beowulfs Finger in ihrer Hand zurückließen – das entzog sich ihrer Welt, auch wenn sie bemerkte, dass da etwas vorging, während sie schlief.
Bleib hier, sagte sie zu einem kreideblauen Krebs, der in den Schlick zu ihren Zehen floh. Die Naht zwischen Himmel und Erde bildete um sie herum einen goldenen Kreis mit Turid als Zentrum der Schöpfung. Sie spürte die Kälte des feuchten Sandes ebenso wenig wie die warme Umarmung der Strahlen auf ihrer Wange. Morgengrauen? Oder kam die Nacht?
Sie wollte nicht, dass das heilsame Licht seinen Schlummer zerstörte, indem es heller wurde. Gleichzeitig versetzte ihr der Gedanke, es könne wie ein Schiff am Horizont untergehen, einen Stich ins Herz.
Warum wieder dieser Ort?, flüsterte eine Stimme hinter ihrem Ohr und verwischte das Wunder der Sonne zu Staub. Turid zuckte mit den Schultern. Sie erinnerte sich, das goldene Meer schon einmal im Traum besucht zu haben, wieder und wieder, schon seit den ersten Tagen in der Finsternis. Genau, wie ihr jedes Mal bewusst war, dass ihr Leib in Wahrheit nie dort gewesen war: Sie kannte gefrorene Seen und rauschende Flüsse, sogar gelbes Licht wie dieses in den winzigen Mauerkerben, wenn sich über Nacht wieder Tau gesammelt hatte. Aber nicht die träge Weite, die die Seeleute in ihren Kopf gemalt hatten – und später Beowulf.
Sie drehte sich um. Er stand dort. Er war gesichtslos, körperlos. Wie eine flimmernde Masse, die man aus dem Augenwinkel sieht. Ein Geist?, fragte sie.
Aber ich lebe doch, lachte er und zeigte mit einer schwungvollen Geste auf seinen Schatten. Der Glanz traf ihn seitlich, sodass die verdichtete Wolke aus Sein schimmerte wie eine Perle. Wie gern habe Farben, dachte sie im Stillen.
Warum wieder dieser Ort?, wiederholte er.
Wie eine hungernde Blume reckte sie sich wieder dem Licht entgegen. Magie..., flüsterte sie.
Er brummte nicht, wie er es im echten Leben getan hätte, sondern amüsierte sich nur mit einem wundervollen Ahh, als verstünde er, was ihre verwirrten Worte damit meinten. Als sei sie ein Kind, das ihm nur mit dem Stuss aus seinem Mund die Welt verzaubert. Turid duckte sich. Der Mann hinter ihr war nicht Beowulf. Ein anderer hätte so reagiert. Dieser andere?
Vater?
Das falbe Gelb am Horizont war so schön, dass sie nicht wieder wegsehen wollte. Außerdem hatte sie Angst, ihm nicht in die Augen sehen zu können, weil er seinen Kopf nicht mit unter die Erde genommen hatte. Doch sie seufzte und tat es. Am Ende war sie froh darum.
Ich hab dich vermisst, sagte sie.
Meine Kleine, sagte er.
Du bist früher nie mit mir hier gewesen.
Du auch nicht.
Turid nickte. Ich hab dich verwechselt, sagte sie, das tut mir leid.
Mit wem?, fragte ihr Vater sanft, als wolle er wissen, wer diesmal bei einem Streich zu Schaden gekommen war. Sein Ton war streng, aber nie böse. Er hatte früh erkannt, dass Turid seine Hand mehr als alles fürchtete – denn wenn sie leben wollte wie ihre Brüder, erwartete sie auch bestraft zu werden wie ihre Brüder. Später, als er ihr das Toben ausgetrieben hatte und sie sicher mit Garn und Wolle bei ihren Tanten saß, glaubte sie es immer noch.
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Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...