Kapitel 4. Erkenntnis

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Was folgte, war ein langer Schlaf. Wie viele Tage oder gar Wochen sie die Härte und Kälte des Felsens unter ihr spürte, vermochte sie auch lange später nicht zu schätzen. Erinnern konnte sich Turid nur an einen endlosen Rhythmus, der so unerschütterlich war wie Ebbe und Flut: Sie war wach und fühlte oder schlief und fühlte nicht. 

In den Episoden der Besinnung waren es meist Schmerzen, die sie nüchtern zur Kenntnis nahm, oder das Kribbeln einer Berührung – Hände, die an ihr zerrten, sie bewegten, sie bearbeiteten. Einmal erwachte sie von einem Druck an ihrer Kehle, um die sich Finger geschlossen hatten. Ein Daumen zog ihre Lippe nach unten und füllte ihren Mund mit dem triefenden Stofffetzen ihres Kleides. Sie saugte eifrig daran, obwohl das Wasser nach Kalk, Schweiß und Moder schmeckte, giftig durch und durch. Ein anderes Mal öffnete sie zu dem Zeitpunkt, als er mit festem Griff die Muskeln ihrer Arme dehnte, die Augen einen winzigen Spalt. Am schlimmsten aber war der Moment, als eine Hand in quälender Langsamkeit ihr rechtes Bein nach oben fuhr, über ihr Knie glitt, auf ihr Kleid stieß und es ohne zu Zögern nach oben raffte. Es war das einzige Mal, dass sie sich wehrte, sie trat mit dem gesunden Fuß in die Dunkelheit, schlug mit der linken Hand ins Nichts und wusste, dass er ihr mühelos ausgewichen war. 

Sie konnte weiter nichts tun als die Erinnerungen an den Eroberer zu bekämpfen und die Angst auszuhalten, die diese Entblößung in ihr weckte. Als die Hände die Fessel um ihr Fußgelenk lösten und stattdessen ihr Bein mit einem festen Ruck oberhalb des Bruchs abbanden, keuchte sie auf. Danach holte sie der Schlaf zurück in die Leere und der Rhythmus begann von vorn.

Bis ihr Körper den Dämmerzustand eines Tages für beendet erklärte.

Turid erwachte in völliger Klarheit. Schlug die Augen auf – Finsternis. Sie ließ sie wieder zufallen. Es spielte keine Rolle. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl, mehr zu sehen, wenn ihre Lider geschlossen waren; als spiegelte sich dann das Bild ihrer Träume auf der Netzhaut.

Sie horchte.

Herzklopfen. Atmung. Das alte Lied.

Es war an der Zeit, über ihr Überleben nachzudenken. Ohne Zweifel heilte ihr Körper. Die gebrochenen Finger waren zwar gekrümmt und unbeweglich, aber sie taten nicht weh, solange sie die Hand in Ruhe ließ. Das Pochen ihres Schädels war irgendwo im Schlaf verlorengegangen. Und ihr Bein –

Sie spürte es nicht. Im ersten Augenblick war sie erleichtert, dass ihr für diese ungewisse Zeit der Schmerz des Bruches erspart blieb. Dann sackte sie innerlich zusammen.

Nichts garantierte ihr, dass es noch da war.

Turid seufzte. Soldaten auf dem Krankenbett verband man oft die Augen, damit sie nicht sehen konnten, dass sie Krüppel waren. Desto später sie es erfuhren, desto besser – am besten, wenn sie schon auf dem Heimweg waren und das Drama dem Spital erspart blieb.

Bei ihr war keine Augenbinde nötig. Fast musste Turid darüber lächeln.

Sie wackelte mit den Zehen.

Das Bein gab es noch. Als sie vorsichtig hinuntertastete, erwartete sie glatte Haut. Stattdessen rieben ihre Finger über die raue Oberfläche fester Leinen. Weiter zu fassen traute sie sich nicht. Ihr Oberschenkel war verbunden, die Splitter fort, das reichte ihr und die Hand sank wieder zurück auf ihren Stammplatz über dem Bauchnabel.

Und jetzt... lag sie in der Dunkelheit. Kalter Steinboden. Ein rostiger Geruch in der Nase. Weiter nichts. Mit jeder Sekunde rückte ihr Erwachen weiter in die Vergangenheit und der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich, hinter jeder Schwade eine Frage. Es war schwer, eine von ihnen deutlich werden zu lassen: Sie rannte ihnen hilflos hinterher wie ein dicker Fuchs einer Schar Hühner.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt