Kapitel 73. Liebe

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Ein stummes Knurren glitt seine Kehle hinauf. Er kniff die Augen zusammen, neigte den Kopf, ballte die Hände zu Fäusten und blinzelte langsam, zwei, drei, vier Mal. Dennoch fand eine Träne ihren Weg an seiner Wange hinunter.

Verdammte Augen, dachte Beowulf. Hadubrand hätte sie mir herausreißen sollen, wie er es vorgehabt hat. Dann stöhnte er. In den vergangenen Stunden hatten sich seine Schmerzen verdoppelt, seine Lebenskraft halbiert. Mit jeder Minute hatte er ein größeres Bedürfnis, sich zu übergeben; ob Blut oder leeren Mageninhalt, wusste er nicht zu sagen. Das Ritual forderte seinen Tribut.

Er schielte zur Küste, wo Turid sich im Schilf verkrochen hatte. Es lebte; um sie herum knisterten die Halme vom Mahlen winziger Insektenkiefer. Wirbel drehten sich vor ihr im Wasser, ihr Blick starr und ihre Züge schmallippig in eine unbekannte Ferne gerichtet. Sie achtete genauso wenig auf die Tiere wie auf Beowulf.

Er musterte sie, senkte das Kinn, hob es. Ihm schien etwas Seltsames vorzugehen. Da war etwas wie ein unsichtbarer Funke. Erglüht mitten in der Finsternis.

Er hatte die Spitze ihrer Brust erspäht – zögerlich hob sie sich unter Turids Hemd hervor, eine erste Rundung nach Jahren der Entbehrung, die Frucht weniger Wochen Überfluss.

Sein Körper reagierte auf der Stelle. Zu seiner eigenen Verblüffung entsandte er eine Botschaft, als sei er mitten im Leben und nicht am Rande des Elends: Ein Begehren war wieder da, das Beowulf zuletzt in sinnlich heißem Dampf gespürt hatte. Es schien sich jetzt im blühenden Leben des Ufers nur willkommener zu fühlen. Bei allen Himmeln, willst du dich umbringen?, klagte er stumm und umklammerte die Wunde an seinem Bauch. Ja, schien sein Körper zu sagen. Er wollte. Aber etwas war anders.

Das warme Prickeln verschmolz mit einem Schauder, rollte seinen Rücken hinab und brachte seine Lenden zum Erzittern. Wie auf Befehl entsprangen neue Wellen aus anderen Quellen, drängten seine Füße, vorwärtszugehen, auf Turid zuzugehen und sie zu berühren, und quälten ihn bis in die Fingerspitzen.

„Gottverdammter Narr", zischte er so leise, dass Turid es nicht mitbekam. Er hatte sich früher nicht selten dafür verflucht, ein Mann zu sein, denn die Frauen mussten sich wohl kaum mit so etwas herumschlagen, ganz bestimmt nicht.

Aber... etwas war anders. Er spürte, dass er mehr wollte – die weiche Haut nicht nur an seinen Fingern spüren wollte. Er wollte Turid dabei ins Gesicht sehen. Er wollte sie umarmen. Er wollte ihr Worte zuflüstern. Er wollte dies wieder und wieder tun, er wollte mit ihr sein, länger, und länger, er wollte mit ihr leben, er wollte – er wollte für sie sterben.

Hör auf, sagte er sich. Schluss.

Das Begehren lockte ihn so sehr, dass er einen Schritt nach vorne machte.

Beowulf schnaubte. Dann schlug er sich die Hand vor den Mund. Es war der Augenblick, in dem ihm klar wurde, was ihn so bestürzte: Adalger hatte stets gesagt, wenn man das Feuer glühen sah, würde es später brennen – immer. Beowulf hatte ihm nicht geglaubt. Denn Beowulf kannte die Nähe nicht. Ohne sie geboren werden und ohne sie sterben, hieß es.

Jetzt war es so weit. Einfach so. Die Liebe war da.

Er freute sich nicht, er hasste er sich nicht, er machte sich keine Sorgen. Der erste Gedanke, den er zustande brachte, war: Sie wird dich niemals heranlassen.

Er fuhr herum. Wurde totenstill. Lauschte. Nein – das hatte er nicht laut gesagt. Es tat dem Wunsch keinen Abbruch, vor Scham im Sand zu versinken.


Turid bekam von der Schlacht, die im Innern ihres Begleiters tobte, nicht das Geringste mit. Die Ironie wollte es aber, dass sie an die gleichen Dinge dachte wie er: An Tragik, an Angst, und an Liebe.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt