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„Fallen. Wir wissen beide, wie es ist.
Im einen Moment drückt dich dein eigenes Gewicht in die Erde und du glaubst, dass sie dich immer halten wird, sie ist deine Wurzel, du berührst sie dein ganzes Leben lang. Im nächsten spürst du das Nichts. Deine Füße brauchen eine winzige Sekunde, um zu begreifen, dass da Leere ist, dann springen dir die Eingeweide nach oben, die Welt friert ein, du wirst schwer und fällst und fällst und die Schwärze leckt an dir wie kalte Flammen.
Jeder, der einmal fiel, hat das gespürt. Aber nur in der Lichtrinne, dem Schlund, fällt man so lange, dass noch Zeit für eine Erkenntnis ist: Von deiner Erde losgerissen zu sein macht dich frei. In gewisser Weise ist das Fallen schön, es ist... Fliegen ohne Flügel. Fallen tötet dich nicht. Aufprallen tut es.
Ob gestählte Muskeln, stramme Haut, Knochen wie ein Ochse – am Ende werden die zähsten Krieger zu Matsch. Dein Gewicht, das dich früher sicher gemacht hat, wird dir zum Verhängnis, dein Körper zerschmettert sich selbst. Hast du dich je gefragt, warum du deinen Aufprall überlebt hast? Leicht wie eine Feder bist du. Alle Zierlichkeit, die dich da oben schwach gemacht hat, ist dein Panzer, wenn der Boden näher kommt.
Ich bin nie aufgeprallt, Turid. Ich starb nicht allein und verwirrt in der Finsternis, musste nicht warten, bis er mich holte. Ich fiel direkt in sein Maul.
Ich stelle mir manchmal vor, wie das Tier lebte, bevor ich kam. Ein König in seinem Reich aus Knochen, Stein und Finsternis. Sicher war ich nicht der Erste, den das Loch sich holte, und ich sollte auch nicht der Letzte sein; ich war nur der Letzte, bei dem es unter die Felsplatte kroch, sich krümmte, den Kopf reckte und den Kiefer weit aufsperrte wie eine hungrige Schlange, während seine Zunge sich kräuselte und sein Speichel zu schäumen begann. Ich weiß, dass es so war, auch wenn ich es nicht sehen konnte – noch nicht. Ich fiel durch die Finsternis, fiel, fiel, dann war es zu Ende, mein ganz eigener Aufprall war da. Es war kein Schlag, sondern ein Gleiten – sanft, wenn man so sagen mag, sanft, finster und feucht von seinem Sabber, während es mich mit seinen Zähnen durchbohrte.
Nur hatte das Tier nicht damit gerechnet, dass ich bewaffnet war. Mein Schwert war schwer, es fiel mir voraus und kam vom Licht in die Finsternis direkt in seinen Rachen.
Blut. Geifer. Finsternis. Als die Klinge in ihm stecken blieb – tief trieb der Fall sie hinein – da hatten tausend Zähne mich bereits erstochen und ich lag im Sterben, aber ich hörte noch, wie das das Tier einen Schrei ausstieß, den ich niemals vergessen werde. Es taumelte und fiel zu Boden, ich nahm die Erschütterung durch seinen Schädel wahr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es spätestens da mit mir vorbei war. Weißt du, beim Sterben schmilzt deine Zeit wie Schnee in der Sonne, mündet in den Fluss der Unterwelt und trägt dich davon. Es ist wie Einschlafen für immer.
Nur, dass ich doch erwachte. Gerade rechtzeitig, um bei etwas dabei zu sein, das sich anfühlte wie die Geburt eines Gottes. Ich steckte noch immer kopfüber in seinem Maul und konnte nur die Verwesung einatmen, während es sich wand und schrie. Ich spürte, wie es vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss und mich weiter erdolchte, spürte, wie sein Blut aus seinem Inneren hervorquoll und in meine Adern eindrang, so wie meines seine Kehle hinunterfloss und sich mit ihm vereinte. Es lag so viel Kraft in seinem Blut, dass das Biest mich ins Leben zurückschmetterte, ohne es gewollt zu haben. Dann durchfuhr es ein Ruck. Wie die Welt am Tag des Jüngsten Gerichts erzittern muss, fegte durch die Unterwelt ein gewaltiger Schauder.
Etwas löste sich von dort, wo mein Schwert versunken war. Die Klinge war an seinem Gaumen vorbei mitten in den Kern des Ungeheuers gedrungen, nicht in sein Herz, es war etwas Tieferes, ein mächtiges Ding jenseits der Fühlbarkeit aller Dinge. Da war etwas Urzeitliches in ihm, wie eine Kugel aus Kraft, die dort schwebte. Und ich hatte sie gespalten. Als ich erwachte, lösten sich gerade die Hälften voneinander.
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Turid und die Finsternis
FantasyDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...