Kapitel 77. Selten bricht nur eine einzige Welle

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Auf halben Weg zum anderen Ufer wurde Turid schlecht. Hat der Sand schon immer so ekelhaft geknirscht?, dachte sie. Was hast du getan?

Sie schloss die Augen und lauschte dem Rauschen des Flusses. Es ist Beowulf, sagte sie sich. Du kannst jederzeit Nein sagen.

Aber das würde sie nicht.

Zugegeben, da war der schale Geschmack in ihrem Mund, wenn sie daran dachte, was ihr bevorstand. Sie hätte es für den Beweis halten können, dass Beowulf Recht hatte: Eine dämliche Idee. Wäre da nicht ein warmes Pochen in ihrem Bauch gewesen, das sie nie zuvor gespürt hatte. Blutjung, wie sie war, hielt sie es für Hoffnung.

„Wird schon nicht so schlimm", flüsterte Turid dumpf und zwang die Füße zu einem weiteren Schritt. Ihr Bein begann sich zu beschweren, und plötzlich hatte sie zum ersten Mal seit Langem wieder das Gefühl, die Finsternis wolle sie ersticken – nur versiegeltes Schwarz um sie herum. Das Surren der Insekten, schrill und monoton, schien sie verspotten zu wollen. So quälte sie sich den Strand entlang, bis sie merkte, dass sie mit den Schuhen in den Spuren versank, die sie auf dem Hinweg hinterlassen hatte, und da war auch das vertraute Klatschen des Wassers, wo es auf einen großen Felsen traf und seine Tropfen hoch versprühte, und die leichte Senkung im Sand. Turid atmete tief ein.

Hier irgendwo hatte sie ihren Vater vor Augen gehabt. Doch genau wie vorhin gelang es ihr nicht, sein Gesicht zu beschwören, nicht einmal seinen Blick, der ihr die Haut versengte, auch nicht die verkniffenen Mundwinkel oder die Zornesfalte auf der Stirn – gar nichts mehr davon. Wie die Menschen, die in Beowulfs Erinnerungen nur als weiße Flecken überdauert hatten, war auch das Antlitz ihres Vaters fort. Wenn sie an ihre Mutter und die Brüder und Schwestern und alle dachte, die sie liebgehabt hatte, sie waren... versunken in der Blindheit.

Das passiert also, wenn man loslässt, dachte sie. Und das Schöne daran war, es tat nicht weh. Turid hatte sich daran gewöhnt, allein zu sein.

Ganz allein?, dachte sie. Der Sand wurde dünner und fester, bis er lockeren Felsplatten wich. Anstatt umzukehren, strich sie liebevoll darüber und setzte sich, verschnaufte, obwohl sie nicht erschöpft war. So, wie Beowulf geklungen hatte, wäre auch er froh über jede verzögerte Minute.

„Ganz allein...", krächzte sie. Der Fluss rauschte holpriger dahin als sonst, als wollte er ihr etwas erwidern. Was würde er sagen? „Nicht allein – noch nicht?" Die Worte waren nur ein Hauch, aber sie erzeugten einen Stich in Turids Magengrube. Ihre Familie war fort. Beowulf war da – und das hieß, dass er eines Tages nicht mehr da sein würde.

Glaubst du wirklich, dass wir Hadubrand entgehen?, sagte sie sich. Hier waren sie sicher, doch sie kannte die Finsternis gut genug, um zu wissen, dass der Fluss sie in ihr Verderben tragen würde. Einen Fuß auf das Floß gesetzt und wenige Stunden später mochte schon eine feuchte Zunge nach ihnen greifen... was, wenn das Tier ihn zuerst aus dem Weg räumte? Sie drückte sich die Faust vor den Mund. „Was soll ich ohne dich tun?"

Die zarte Abweichung im Lauf des Wassers hielt sie genau so lange für Einbildung, bis die Gischt auf ihren Kleidern landete. Turid erstarrte. Unsichere Schritte erklangen hinter ihrem Rücken. Jemand lahmte durch die Brandung.

„Beowulf?", fragte sie verwirrt.

„Allerdings", kam es zurück. Sie drehte sich um. Er war schwer außer Atem. Wegen...? Turid wurde rot, bis sie ein träges Tock – Tock - Tock vernahm. Sie blinzelte mehrmals und hatte so einige verrückte Bilder in ihrem Kopf – Beowulf mit einer Krücke, Beowulf machte Musik – bis ihr klar wurde, dass es ihr Floß war, das gegen die Steine schlug.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt